Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 24.03. - 28.05.2012 im Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen
Hrsg. von Reinhard Spieler mit Texten von Margit Brehm, Harald Kunde und dem Herausgeber
Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen am Rhein / Kerber Verlag, Bielefeld, 2012, ISBN 978-3-86678-684-4, 200 S., zahlreiche Farbabbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 30,5 x 23,5 cm, € 39,80
‚Egocinema' ist der erste Teil des Titels eines 2011/2012 entstandenen großformatigen Ölbilds des 1947 in Wittenberg/Elbe geborenen, seit 1996 an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe lehrenden und in Hamburg lebenden Malers, Druckers und Performers Gustav Kluge. Der volle Titel lautet: ‚Egocinema I/Meine Mutter, ich als mein Vater und ich'. Die 270 x 360 cm große, in dunklem Weinrot gehaltene Malerei zeigt einen Bühnen- oder Kinoraum. Ein Akteur ist durch den kurz geöffneten Bühnenvorhang getreten und scheint, aber das ist nicht ganz sicher, in den Zuschauerraum zu schauen. Es könnte aber auch eine Innenschau sein. Bis auf zwei sind die grob skizzierten 80 oder 90 dick gepolsterten und ebenfalls roten Sessel leer. Auf dem linken Sessel der letzten Reihe sitzt eine vielleicht 85- oder 90-jährige Frau, die mit einem überlangen knochigen Zeigefinger auf einen vielleicht 65-jährigen kahlköpfigen Mann in derselben Reihe einspricht. Der Sitz zwischen den beiden Figuren ist leer. Man könnte vermuten, dass der Mann auf der Bühne der Maler selber ist, der seinen Vater spielt und der Mann in dem Sessel der Maler. Aber das bleibt offen. Die Szene erinnert an die unter anderem von Bert Hellinger entwickelte letzte große therapeutische Methode des 20. Jahrhunderts, das Familienstellen. Beim Familienstellen stellen die Klienten die für sie zentralen Personen aus dem familiären Kontext von den Eltern und Geschwistern bis hin zu den Groß- und Urgroßeltern mit von ihnen selbst gewählten realen Personen in ihrer Nähe und Distanz zu sich selber auf. Unter fachlicher Anleitung werden die Szenerien solange verändert, bis sie für die Klienten stimmig sind. Dem als gültig empfundenen abschließénden Bild wird heilende Kraft zugesprochen. Ob die von Kluge gewählte Szene aus ‚Egocinema I' das letzte Bild in diesem Sinne ist, darf bezweifelt werden. Denn einmal scheint der Akteur nur halbherzig durch den Vorhang auf die Rampe zu treten. Von seiner Körperhaltung her wendet er sich deutlichst der Mutter zu und scheint sich dabei selber zu vergessen. Schließlich deutet die römische Eins vor ‚Egocinema' an, dass auf dieses Eröffnungsbild eine Serie von weiteren Malereien folgen könnte. Reinhard Spieler jedenfalls ist sich in seinem Vorwort zu dem gewichtigen Katalog über Kluges Malerei zwischen den mittleren 1970-er Jahren und heute sicher, dass ‚Egocinema' „exemplarisch für das Gesamtwerk von Kluge steht: „Es geht um den [gt][gt]Film des eigenen Lebens[lt][lt], um Konstruktion und Destruktion des Selbst in seiner Begrenztheit von Geschlecht, Körperlichkeit und Endlichkeit. Er untersucht Grenzfälle der Geschlechtlichkeit bei Transsexuellen, spiegelt das Künstler-Ich in Künstler-Bildnisse von Francisco Goya über Francis Bacon bis zu Zeitgenossen wie Paul McCarthy, John Bock und Thomas Schütte oder befragt Identitätskonstruktionen in einer Serie von Gruppenporträts. Am Ende geht es um eine therapeutische Arbeit am traumatisierten Ich, die Betrachter, Künstler und auch andere künstlerische Positionen in einen Dialog führt" (Reinhard Spieler). Für Spieler steht Kluge in der Tradition großer Maler der expressionistischen Figuration wie Francis Bacon, Lucian Freud oder Leon Kossoff. Vorgestellt werden rund 130 Malereien, darunter 15 Porträts seines langjährigen transsexuellen Modells Christine und vier Porträts und Studien von Peter Weibel, der auf den beiden Großformaten wie der Protagonist von ‚Egocinema' durch einen Vorhang tritt. Dieser Vorhang ist im Unterschied zum Vorhang von ‚Egocinema' bemalt und zitiert „frühe Belege der medialen Moderne: Es sind Schwarz-Weiß-Fotografien von Toten im Umfeld der Pariser Commune. Diese Verbindung von Darstellungsformen aus der technischen Pionierzeit der Fotografie mit den Opfern von sozialen Revolutionen ist ein Thema, das sowohl Weibel als auch Kluge seit Jahren fasziniert..." (Harald Kunde). Hoch eindrücklich auch die 44-teilige mittelformatige Serie der ‚Löschungen' aus den Jahren 2000/01, die untersucht, wie die Gesichter von Menschen ausgelöscht werden und in Vergessenheit geraten können. Die von Margrit Brehm vorgestellte Arbeit ‚Zeremonie für ein Double. Das Dritte Auge' steht für die performative Seite im Werk von Gustav Kluge. Die Arbeit wurde am 30. April 2010 in der Halle am Wasser hinter dem Hamburger Bahnhof in Berlin zusammen mit Katrin Haaßengier zur Aufführung gebracht.
(ham)