Neue Kunst aus Frankreich
Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 11.06. - 25.09.2011 in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe
Hrsg. von eben derselben mit Texten unter anderem von Alexander Eiling, Dorit Schäfer, J. Emil Sennewald und einem Vorwort von Pia Müller-Tamm
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe / Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2011, ISBN 978-3-925212-83-8, 271 S., Klappenbroschur, Format 28 x 21,1 cm, € 29,--)
In der künstlerischen Moderne haben Metropolen wie Paris und später New York über den Erfolg von Bewegungen, Stilen und Künstlern bestimmt. Mit der Globalisierung der Bilder- und medialen Welten verloren die Metropolen tendenziell an Bedeutung. Die Kunstwelt gibt deshalb „das alte Modell des einen, autoritativen Kunstzentrums" auf; „an seine Stelle sind weltumspannende Netzwerke getreten, globale Infrastrukturen, an denen Kunstinstitutionen und Märkte auf allen Kontinenten partizipieren... Doch der Blick auf das globalisierte Kunstsystem nimmt auch die immanente Gegendynamik wahr: das an verschiedenen Orten der Welt gleichzeitige Erstarken von neuen Subzentren, die im Zeichen des ‚contemporary' erstmals auf sich aufmerksam machen, deren Beitrag jedoch latent im Widerspruch zu den monokulturellen Standardisierungstendenzen der politischen und ökonomischen Globalisierung steht. Singularität, Diversität und Heterogenität sind die Leitbegriffe einer künstlerischen Praxis, die regionale Kontexte zulässt, lokale Traditionen ernst nimmt und diese in ihren Werken reflektiert" (Pia Müller-Tamm). Für die Kunsthalle Karlsruhe gehört Paris zu den wieder erstarkten Subzentren. Nahe an Frankreich gelegen hat man von dort aus beobachten können, dass sich in Paris eine neue, für den globalen Diskurs wichtige Szene herausbildet, die ihre Herkunft aus Frankreich nicht verleugnet. Für den Kurator der Ausstellung Alexander Eiling ist es der Bezug auf die dunkle Seite der Palette und das Schwarz. Er hat für die Ausstellung in der wieder eingeweihten Orangerie in Karlsruhe zwölf Künstler ausgewählt, die sich „trotz aller Unterschiedlichkeit durch eine hervorstechende Gemeinsamkeit" auszeichnen. „Sie alle vereint eine spannungsreiche und geheimnisvolle Verbindung aus Schwarz und Licht, Hell und Dunkel, Grisaille und Clair-obscur... Mit ihrem thematischen Schwerpunkt steht ‚Lumière Noire' in der Folge zahlreicher Ausstellungen, die sich der Stellung des Schwarz in der Kunstgeschichte gewidmet haben" (Alexander Eiling). Die ausgewählten Positionen stehen für Künstler, die mit wenigen Ausnahmen in den 1970er Jahren geboren sind.
Zu den auffälligsten Positionen gehört der 1982 in Toulouse geborene Guillaume Bresson, der auf seinen Gemälden und Tryptichen Schlägereien, Schlachten, Zweikämpfe und Streit zeigt, die aus dem Dunkel der Pariser Vorstädte geboren scheinen. „Jugendliche Draufgänger in modischer Sportbekleidung sind die Protagonisten seiner monumentalen Formate. In Tiefgaragen oder auf verlassenen Plätzen treffen sie aufeinander und ringen, prügeln, würgen. Nicht selten verschwimmen dabei die Grenzen zwischen Spaß und Ernst, und oft ist schwer auszumachen, ob es sich bei den aggressiven Ausbrüchen der jungen Männer um halbwüchsiges Kräftemessen oder um echte Gewalt handelt. Wie ein verunklärender Schleier legt sich die Dunkelheit... über die Szenerien" (Maike Hohn). Der 1972 in Lille geborene Damien Deroubaix setzt auf den Geist der Apokalyptik und die Methode der Collage: „Die Malerei ist ein Mittel, um die Welt zu enthüllen. Meine Bilder sollen zeigen, wie die Welt wirklich ist... Für mich sind sie ein Porträt der Geist-Zeit" (Damien Deroubaix). In seinen großformatigen Holzschnitten und in seinen Zeichnungen schlägt sich der heutige Zeitgeist „als Zeit der Geister" nieder. „Seine Untergangsszenarien und Horrorvisionen sind von Monstern und Skeletten bevölkerte Kriegsschauplätze, die sich implizit als Ergebnisse menschlicher Lüge, Macht- und Geldgier, Zynismus und Gewalt präsentieren. Grundlegendes Schaffensprinzip Deroubaix' ist die Collage. Seine Bildelemente, die ebenso aus der klassischen Kunstgeschichte wie aus Grindcore-, Pop- und Alltagskultur gespeist werden, verwendet er in immer neuen Zusammenstellungen und erzeugt so einen düsteren Kosmos der Zeichen... Für seine Holzschnitte hat er insbesondere das Werk Albrecht Dürers studiert. Aber auch die Kunst Rembrandts, Pablo Picassos, Hans Holbeins oder Max Beckmanns sind Inspirationsquellen, aus denen Deroubaix schöpft" (Tessa Rosebrock). Der 2008 im Hospitalhof Stuttgart vorgestellte Vincent Tavenne ist unter anderem mit einer drei Meter hohen schwarz lackierten Holzscheibe vertreten, die den umliegenden Raum und das Licht wie ein Spiegel reflektiert und ihn zugleich wie ein schwarzes Loch in sich hineinzieht. Man kann aber genauso gut an mittelalterliche Kosmosdarstellungen denken, „die Gott Vater beim Entwerfen der Erdscheibe mit dem Zirkel" zeigen (Theresia Kiefer). Der 1969 in Neuilly-sur-Seine geborene Yann Toma wird zu den Künstler-Unternehmern gerechnet: Er hat sich 1994 für einen symbolischen Franc „alle Rechte am bankrotten Energiekonzern Quest-Lumière" erworben „und wurde somit offizieller Rechtsnachfolger aller Firmenrechte sowie des noch vorhandenen Inventars" (Reinhard Spieler). Deshalb tauchen in Arbeiten wie „Post Bankrott" von 2009 unzählige Glühbirnen auf. Dass Vincent Ganivet eigens für die Orangerie in Karlsruhe geschaffenen einander überkreuzenden spektakulären Bögen aus grauen Hohlblocksteinen wenige Tage der Ausstellungseröffnung in sich zusammen gestürzt und jetzt nur noch auf Fotografien und als Schutthaufen zu sehen sind, war in der Ausstellungsplanung nicht vorgesehen: Vincent Ganivets Skulpturen sind ... heikle Architekturen. Sie schweben leichtsinnig im Raum, wurzeln eigenwillig am Boden, ragen schwindelerregend in die Höhe - und drohen, jederzeit zusammenzustürzen. ... Ganivets riesenhafte Bögen, Kurven und Räder sind Akkumulationen von sorgfältig, aber lose aufeinandergeschichteten Beton- oder Steinblöcken, die aus eigener Kraft stehen oder hängen und der Schwerkraft zu trotzen scheinen. So treffen im Werk Ganivets zwei Disziplinen aufeinander: die Architektur und die Skulptur, deren jeweilige Eigenarten als ein massives und permanentes Gefüge bewusst manipuliert wird" (Stefanie Müller). Der Idee nach sollten Ganivets Skulpturen eigentlich die Prinzipien des statischen Gleichgewichts außer Kraft setzen. Aber in der Realität kommt die Statik dann doch ab und an wieder zu ihrem Recht.
(ham)