in der Kunst des 20. Jahrhunderts
Studien zur Kulturgeschichte einer Farbe
Regensburger Studien zur Kunstgeschichte 5, hrsg. von Christoph Wagner
Verlag Schnell + Steiner, Regensburg 2008, ISBN 978-3-7954-2092-5, 416 S. 52 s/w- und 15 Farbabbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 24,5 x 18 cm, € 59,--
Für die interdisziplinär angelegte Artheon-Jahrestagung ‚Die Farbe Weiß. Unschuld am Beginn des dritten Jahrtausends' im März 1999 in der Evangelischen Akademie Baden, Bad Herrenalb, kam Barbara Oettls Dissertation an der Universität Jyväskylä, Finnland, zu spät. Auch Oettl nähert sich der Farbe Weiß in ihrer Kulturgeschichte interdisziplinär. Neben der Rolle der Farbe in der Kunst des 20. Jahrhunderts kommen die Farbsymbolik und die Farbpsychologie ebenso zu Wort wie die mit ihr verbundenen physikalischen Phänomene. „Dass gerade die Farbe Weiß einen ausgedehnten Interpretations- und Deutungskatalog besitzt, ist sicherlich unbestritten. Vor allem ist die Verquickung der Empfindungen mit allen erdenklichen Assoziationen aus dem religiösen, kulturhistorischen und volkskundlichen Bereich zu bedenken. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus die psychologische Wirkung, welche von Farben im Allgemeinen, aber besonders von Weiß hervorgerufen wird. Deshalb wird in dieser Recherche zu Weiß vor allem auf die emotionalen und sinnlichen Qualitäten dieser Farbe eingegangen. Damit stehen diese Untersuchungen den herkömmlichen Konventionen einer Diskussion zur Bildtradition entgegen, die sich auf einer rein ikonologischen Ebene abzuspielen haben. ... Ikonologie und Psychologie von Kunst gehen ... unweigerlich ineinander über und beeinflussen sich gegenseitig. Deshalb werden sie in der Recherche zur Bedeutung und Deutung der Farbe Weiß gemeinsam behandelt" (Barbara Oettl). Im zweiten Teil der Arbeit werden die Künstler Kasimir Malewitsch und seine Philosophie einer Unfarbe, Lucio Fontana und sein Schnitt in die Unendlichkeit vorgestellt. Weiter Piero Manzoni und sein weißes Werk, Robert Ryman und Dan Flavin. Dass Malwewitschs Suprematismus zwingend religiös zu verstehen ist, wird nach Oettl unter anderem durch seinen Brief vom 11. April 1920 an Michail Gerschenson unabweisbar, in dem er davon spricht, „dass der Augenblick gekommen ist, die Religion zu ändern ... ich sehe im Suprematismus, in den drei Quadraten und dem Kreuz, nicht nur gemalte Elemente, sondern überhaupt auch eine neue Religion und ein neues Gotteshaus dazu. Ich teile sie in drei Erscheinungen: die farbige, die schwarze und die weiße. In der weißen sehe ich die reine Wirkung der Welt; in der farbigen das Ursprüngliche als etwas Gegenstandsloses, das Herausführen der Sonnenwelt und ihrer Religionen. Dann der Übergang zum Schwarzen als der Keim des Lebens und das Weiße als Empfindung. ... Das neue Gotteshaus soll eine Erschaffung der gesamten Welt sein. Seine niemals endende Liturgie ist unsterblich" (Kasimir Malewitsch). Die Unfarbe Weiß kann für ihn für Gleichheit, Frieden und Brüderlichkeit unter den Menschen sorgen. Zwei Tage nach dem Staatsbegräbnis von Lenin verfasst Malewitsch eine 30seitige Abhandlung, „in der er christlich-religiöse Heilsgeschichte und leninistisch-materielles Politwesen miteinander verkettet... Sein für viele unfassbarer Tod soll das russische Volk dazu animieren, nunmehr als Jünger Lenins dessen Botschaft als eine immerwährende zu leben und zu predigen. ... Anstelle der verpflichtenden Stalin-Ikone als Tabernakel in jedem Haushalt, solle das Volk stattdessen Malewitschs Quadrat angemessen präsentieren: 'Every Leninist workman must have a cube in his house as a reminder of the eternal, constant doctrine of Leninism which becomes symbolic, dividing the material life pattern into a cube.... All production must serve the new church, for everything that is born in Leninism, every step is born on the path of Lenin, Lenin is every thing, no step can be taken without Lenin, just as no goal can be reached without God'" (Barbara Oettl/Kasimir Malewitsch). Lenin wird zum Lichtbringer, der politische zum religiösen Erlöser und umgekehrt. „Das Symbol, welches Politik und Kirche eint, ist das ‚Weiße Quadrat' Malewitschs" (Barbara Oettl).
Oettl fasst ihre Studie wie folgt zusammen: „Kunstwerke des 20. Jahrhunderts repräsentieren für viele des ‚Kaisers neue Kleider'... Besonders im Fall weiß-farbener Monochromien zweifelt der Betrachter an der Ernsthaftigkeit des jeweiligen künstlerischen Unterfangens. Rätselhafte leere Welten offerieren ihre stille Präsenz und geben auf den ersten Blick keinerlei Inhalt oder Botschaft preis... Der Betrachter blicke auf eine Pause, wie Hollein sagt, auf die man sich einlassen müsse... Mit der Akzeptanz und dem Genuss der Stille alleine ist es jedoch nicht getan. Das Verständnis dieser Bildwelten erfordert darüber hinaus, dass sich der Betrachter auf Informationen einlässt, die über seine bloße Wahrnehmung hinausgehen. Derartige Hinweise liefert etwa die Kenntnis des Gesamtwerkes des jeweiligen Künstlers, ein Einblick in dessen Arbeitsumfeld und das künstlerische Klima, in dem die Kunstwerke entstehen. Bei monochrom-weißen Werken kann nicht zuletzt das tradierte Wissen um die Bedeutung der Farbe die entscheidende Hilfestellung leisten. Dabei gilt es zu berücksichtigen, ob sich der Künstler überhaupt dieser symbolischen Identifikationen der Farbe Weiß bedient oder ob die Einbeziehung dieses Wissens um die mit der weißen Farbe einhergehenden Inhalte, Werte und gewachsenen Traditionen vom Betrachter ausgeht. ... Wenn Kandinsky ehemals vorhersah, das Weiße sei voller Möglichkeiten, so wies er einen Weg, der nur wenige Jahre später erstmals von Malewitsch in seiner bislang reinsten Handhabung beschritten werden sollte. Diesem Bestreben folgen zahlreiche weitere Künstler, welche Kandinskys These in die Tat umsetzen: ‚Das Weiß klingt wie Schweigen, welches plötzlich verstanden werden kann'" (Barbara Oettl/Wassili Kandinsky).
(ham)