Hrsg. von Hubert van den Berg und Walter Fähnders mit einer Einleitung der Herausgeber und 220 Einträgen von ‚Absolute Dichtung bis Zufall', einer Auswahlbiographie und einem Personenregister
Verlag J.B. Metzler Stuttgart. Weimar, 2009, ISBN 978-3-476-01866-3, 404 S., Hardcover gebunden, Format 23,5 x 16 cm, € 59,95
Der Avantgarde-Begriff entstammt bekanntlich dem militärischen Sprachgebrauch und wird in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Vertreter des Frühsozialismus in Frankreich auf Künstler und Kunst übertragen: „Wir Künstler werden als Avantgarde dienen. Die Macht der Künste ist in der Tat die unmittelbarste und schnellste" (Olinde Rodrigues, 1825). Bis zum Zweiten Weltkrieg wird, vor allem in Frankreich, unter künstlerisch-kultureller Avantgarde eine fortschrittliche bzw. politisch engagierte Kunst und Literatur verstanden und der Künstler in der Rolle eines Vorreiters gesehen. „Davon ausgehend setzt sich der Begriff zuerst im Französischen, dann auch in weiteren romanischen Sprachen - dem Spanischen und Italienischen - sowie anschließend auch in anderen Sprachen, so im Deutschen, langsam für jenen Komplex durch, den wir heute ‚Avantgarde' nennen. ‚Avantgarde' steht in scharfer Konkurrenz zum ‚Ismus', als der die einzelne Avantgarde-Bewegung ja auftritt" (Hubert van den Berg/Walter Fähnders). Zu Anfang des 20. Jahrhunderts bedienen sich nach politisch-oppositionellen Gruppierungen auch die Vertreter der historischen Avantgardebewegung der Textgattung der Manifeste. Manifeste befördern die programmatische Profilierung, markieren das eigene Selbstverständnis, helfen der Kommunikation auf und haben performativen Charakter. „So hat Filippo Tommaso Marinetti die Proklamation des Futurismus per Manifest sehr genau durchkalkuliert, verschiedene Titel für das futuristische Gründungsdokument erwogen und schließlich mit der Publikation des ersten futuristischen Manifests in der Pariser Tageszeitung ‚Le Figaro' am 20.2.1909 Maßstäbe für den avantgardistischen Manifestantismus gesetzt. Als Selbstbezeichnung dient der Begriff seither der Proklamation immer neuer Ismen - vom Adamismus bis zum Zenitismus" (Cristina Jarillot Rodal). Gelegentlich wird der russische Akmeismus als Adamismus bezeichnet, dann aber auch der Pseudo-Ismus von Max Ernst, „den er 1920 in einem Manifest gleichen Titels in der Zeitschrift ‚Die Schammade' proklamiert und in dem er im Kontext der Kölner Dadabewegung über Nacktheit räsonniert..." (Walter Fähnders). Unter Zenitismus versteht man eine spezifisch serbische Strömung innerhalb der Avantgarde. In den 1960er Jahren werden die kulturellen und künstlerischen Avantgarden unter anderem von Hans Magnus Enzensberger, Arnold Gehlen und vom politisch linksradikalen Spektrum des Maoismus, der nationalen Befreiungsbewegung in der Dritten Welt und der RAF kritisiert. Paul Mann beschwört 1991 den Tod der Avantgarde. In der postmodernen Philosophie wird die Avantgarde unter anderem „wegen ihres Universalismus, wegen ihres oft linearen Zukunftsglaubens und ihrer Vorstellung vom Neuen und der Originalität, schließlich wegen ihrer Selbstpositionierung als Spitze der Moderne und des Modernismus" attackiert. Aber „in der Kunst selbst, die sich im späten 20. Jahrhundert als postmodern versteht, sind viele Verfahren, Formen und Praktiken der Avantgarde übernommen und weiter entwickelt worden ... So ist der semantische Befund zu Beginn des 21. Jahrhunderts uneinheitlich: In und seit den 90er Jahren wird für den deutschen Sprachgebrauch konstatiert, dass der Begriff ‚Avantgarde' ‚in den letzten Dezennien' zu einem ‚Modewort' geworden sei, ‚das unterschiedslos auf alles Neue in Kunst und Kultur angewandt wird.' Praktisch die gesamte Kunst der Moderne und auch der Gegenwart, sei sie postmodern oder sonst wie zu benennen, wird als ‚Avantgardismus' interpretiert ..." (Hubert van den Berg/Walter Fähnders). Van den Berg und Fähnders schlagen deshalb vor, die Avantgarde als soziale Konfiguration aufzufassen und sie als ein Phänomen der sozialen Kohäsion und Gruppenbildung im kulturellen Feld zu beschreiben, das sich zusammenhängend als Netzwerk begreifen lässt. „Die Avantgarde erscheint dabei als ein auf der synchronen Ebene heterogenes und auf der Ebene der Diachronie sich wandelndes und wanderndes, letzten Endes aber doch einheitliches Netzwerk, das alle Kunstbereiche umfasst: bildende Künstler, Schriftsteller, Komponisten und Musiker, Architekten und Städtebauer, Designer, Filmemacher, Theaterregisseure und Bühnenkünstler, Galeristen und Zeitschriftenherausgeber. Sie alle suchen, oft in Kooperationen untereinander und oft auch als Doppel- oder Mehrfachbegabungen, eine neue Kunst bzw. eine künstlerische Alternative zur hegemonialen Kunst ihrer Zeit zu entwickeln. Es ist dies ein Netzwerk, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsteht und sich faktisch bis zur Jahrtausendwende innerhalb und außerhalb Europa weiterentwickelt..." (Hubert van den Berg/Walter Fähnders). Das Lexikon bietet 1. Lemmata zu einzelnen Avantgarde-Bewegungen und Ismen wie Dada, Cobra und Futurismus, 2. Gesamtdarstellungen der Avantgarde in den einzelnen Künsten, 3. Lemmata zu einzelnen Kunstformen und Kategorien der Avantgarde wie z.B. Collage, Gesamtkunstwerk und 4. Lemmata zu einzelnen Ländern, Regionen und Sprachen.
(ham)