Leporello mit 64 Teilen und einem Essay von Konrad Tobler
Scheidegger [&] Spiess, Zürich, 2010, ISBN 978-3-85881-296-4, 128 S., zahlreiche s/w-Abbildungen, Leporello mit einer Gesamtlänge von 13,44 m, Außenformat 26 x 21,2 cm, € 37,--
Biblische Apokalypsen wie die Offenbarung des Johannes bleiben trotz apokalyptischer Reiter, Seuchen, Krieg der Sterne, Tod und Teufel Trostbücher und weisen den Weg ins Paradies. In Dantes Inferno öffnen sich dagegen die Pforten der Hölle: „Ihr, die hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!“ Wie der religiöse Witz scheinen auch die Maler mehr Gefallen an der Hölle als am Himmel zu finden. Das kann man etwa an Hieronymus Boschs Tryptichon „Der Garten der Lüste“ und dort auf dessen rechtem Seitenflügel ‚Die Hölle’ (um 1500) überprüfen. Man findet bisher so nie gesehene Ungeheuerlichkeiten wie ein zwischen zwei Ohren aufgeklapptes Messer und einen Menschen, der an die Saiten einer Harfe geheftet ist. Spätere wie Jacques Callot (vgl. ‚Der Galgenbaum’ aus der Serie ‚Die großen Schrecken des Krieges’ von 1632/33), Francisco de Goya (vgl. die Serie ‚Die Desaster des Krieges’ von 1810 – 1820), Ludwig Meidner, Otto Dix, Franz Masereel und die Chapman-Brüder führen die Tradition fort. Art Spiegelman reflektiert in seinen Maus-„Comics“ Auschwitz und den Holocaust, Jacques Tardi die Greuel des Ersten Weltkriegs und Albert Robida die in aller Regel nicht erkannten lebensfeindlichen Fallen der technischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Alles in allem entstehen makabre Totentänze, die sich keiner aussucht, denen aber jeder ausgesetzt ist. M. S. Bastians (geb. 1963 in Bern) und Isabelle Ls. (geb. 1967 in Biel) Bastokalypse schreibt diese Tradition der Höllenvisionen für das 21. Jahrhundert fort. Es entsteht eine dichte apokalyptische Landschaft, in der nicht nur John Heartfields Hitler-Persiflage, sondern ein Großteil der überkommenen und gegenwärtigen Visualisierungen des Grauens eingebunden sind. Die Szenarien enden in einer letzten großen Schlacht, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Als Theologe fühlt man sich, wie schon angedeutet, nicht an neutestamentlichen Apokalypsen, sondern an die alttestmentliche prophetische Gerichtsrede vom ‚Tag des Herrn’ erinnert, die sich unter anderem bei Amos findet: „Wehe denen, die den Tag des Herrn herbeisehnen! Was soll er Euch? Denn der Tag des Herrn ist Finsternis und nicht Licht. Gleich als wenn jemand vor dem Löwen flöhe und ein Bär begegnete ihm; und er käme in ein Haus und lehnte sich mit der Hand an die Wand und eine Schlange stäche ihn. Denn der Tag des Herrn wird ja finster und nicht Licht sein, dunkel und nicht hell“ (Amos 5, 18-20). Trotz der überdeutlichen Absage an jede Schönfärberei gibt es bei Amos noch so etwas wie eine letzte leise Hoffnung, dass irgendwann einmal vielleicht eine Zeit kommt, in der die Wüstenstädte wieder bewohnbar werden, man in Weinbergen wieder Rebstöcke und in Gärten wieder Bäume pflanzen und weiter Flüchte genießen kann. In der Bastokalypse bleiben nur Mord und Totschlag, Puff und Paff, Aaa und Grrrrrrrrrrrrrr. Und am Schluss verlieren selbst die Totenköpfe ihre hohlen Augen und Münder. Das Desaster ist perfekt.
(ham)