Wilhelm Fink Verlag, Paderborn, 2008, ISBN 978-3-7705-4617-6, 413 S. 167 s/w-Abbildungen, Festeinband gebunden mit Schutzumschlag, Format 23,8 x 16,5 cm, € 49,90/SFR 84,--
Robert Lebecks am frühen Abend des 29. Juni 1960 auf dem Boulevard Albert in Léopoldville, Belgisch-Kongo, mit dem Superweitwinkel und im Abstand von nur gut einem Meter aufgenommene und rasch weltberühmt gewordene Aufnahme des ‚Degendiebs’ eröffnet mit gutem Grund Jörn Glasenapps als Mentalitätsgeschichte aufgefasste Geschichte der deutschen Nachkriegsfotografie: Beim Staatsbesuch des belgischen Königs Baudouin hatte ein junger schwarzer, westlich gekleideter Kongolese dem König den Paradedegen entrissen und war mit seiner Beute direkt auf den Fotografen zugelaufen. Die Aufnahme muss später für die Wechselstimmung in Belgisch-Kongo ebenso herhalten wie für das eurozentrische rassistische Stereotyp des unbeherrschten kindlich-irrationalen Schwarzen und anderes mehr. Sie spricht jedenfalls nicht für sich. Sie braucht deshalb zwingend die historisch perspektivierte kontextsensitive inter- und transdisziplinäre Erklärung und das Einbeziehen von Disziplinen wie der Geschichts-, Kunst-, Literatur-, Medien-, Kommunikations- und Sozialwissenschaft, will sie nicht zu einem Instrument werden, mit dem buchstäblich alles ausgesagt und jedem Zweck gedient werden kann. Insofern wird in Glasenapps Untersuchung die Funktion bzw. der Gebrauch der Bilder zur entscheidenden Kategorie: Es geht genau genommen nicht um Bilder, „sondern um gebrauchte Bilder … - und zwar solche, die nach 1945 speziell für den westdeutschen Bildhaushalt relevant wurden“ (Jörn Glasenapp).
Glasenapp sieht sich in der Nähe der Visual Studies. Er verzichtet auf den Versuch, Bilder wesensmäßig zu erfassen und zu Bildtypen zu kommen und stellt statt dessen die historische Bedingtheiten der Aufnahmen, ihre Wahrnehmung, ihre gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Rollen in den sich wandelnden zeitlich-räumlichen Konstellationen in den Fokus der Betrachtung. Er geht in der Regel von einem Einzelfall wie Lebecks Degendieb oder einer Ausstellung wie Karl Paweks Weltausstellung der Photographie aus, um über die Auseinandersetzung mit ihnen „zu verallgemeinerbaren Befunden zu gelangen, in welchen sich zentrale Grundzüge der westdeutschen Fotografien zu erkennen geben“ (Jörn Glasenapp). Glasenapps Mentalitätsgeschichte der deutschen Nachkriegsfotografie setzt mit den befreiten Konzentrationslagern ein. Ihnen werden die Bilder der deutschen Trümmerlandschaften gegenübergestellt. Weitere Kapitel widmen sich unter anderem der Frage, warum fotografischer Neoplatonismus weltweite Erfolge feiern kann und Otto Steinerts subjektive Fotografie mehr oder weniger in Vergessenheit geraten ist. Das letzte Kapitel lädt zum Nachdenken über Juergen Tellers modefotografischen Dienst an der Wahrheit ein und kommt zum Ergebnis, dass die Modewelt alles andere als schön ist.
(ham)