Luther [&] the Family of Pills
Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 15.06. – 02.10.2009 in der Sammlung Goetz, München
Hrsg. von Ingvild Goetz, Karsten Löckemann, Stephan Urbaschek und Texten u.a. von Dominikus Müller und den HerausgeberInnen
Kunstverlag Ingvild Goetz, 2009, ISBN 978-3-939894-12-4, 152 S., zahlr., Farbabbildungen, Hardcover gebunden, Format 24,6 x 17,6 cm, € 35,--
Die Frage nach dem Ursprung von Gut und Böse und ihre Auswirkungen auf den Fortgang der Welt hat Konjunktur. Sie beschäftigt wieder auch einmal die Künste. Offensichtlich greift die moderne Vorstellung einer sich mit dem Fortgang der Geschichte selbst aufklärenden Welt zu kurz. Man will über die unendliche Kette von Ursachen und Wirkungen hinauskommen und wissen, welcher Geist die Materie tatsächlich bewegt.
Thomas Zipp, 1966 in Heppenheim geboren und seit 2008 Professor an der Universität der Künste Berlin, bringt in seiner von ihm selbst in der Sammlung Goetz inszenierten Ausstellung ausgewählte Schattenseiten der Fragestellung auf die Bühne. Er zieht dazu schwarze Vorhänge vor die Fenster, schwarzgraue Teppichböden über das Parkett und setzt eigene Lampen mit kaltem, gleißendem Neonlicht wie Kronleuchter an die Decke. Ob die Lampen etwas zur Erhellung der Grundfrage und der seelischen Gestimmtheit ihrer Protagonisten in Zipps Schattenwelt beitragen, bleibt indes offen: Zipp interessiert sich im weiten Feld der Kultur- und Kunstgeschichte insbesondere für die historischen Personen, die als Seelenführer, als Psychonauten einen herausragenden Einfluss auf moderne Antworten gehabt haben. Anders als der Bewusstseinsforscher Stanislav Grof schaut Zipp nicht mit Hilfe von LSD oder holotropem Atmen auf den Grund der Seele, sondern im künstlerischen Spiel und wählt sich mit Pinsel, Vergrößerungsapparat und Schere u.a. Martin Luther und Otto Hahn als beispielhafte Protagonisten von Seelenführern aus dem reichen Fundus der Säkular- und Kunstgeschichte aus.
An Luther interessiert ihn dessen Opposition zu den spätmittelalterlichen kirchenamtlichen Buß- und Fegefeuervorstellungen. Deshalb schreibt er aus den 95 Thesen u.a. die Thesen 11, 12 und 13 auf Papierblätter ab und stellt ihnen fiktive Porträts von Psychonauten an die Seite. An Hahn wie an Luther interessiert ihn die Frage, wie beide mit den Folgen ihres Handels umgegangen sind, Luther mit der Kirchenspaltung und Hahn mit der Atomspaltung. Und weiter: Was wäre gewesen, wenn Adam und Eva nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen hätte? Deshalb bekommt neben der mit Hahn verbundenen Bombe auch der Apfel seinen selbstverständlichen Platz. Und der Futurismus, Dada und der Surrealismus. Aufs Ganze entsteht eine Folge verschatteter Kammern, vor deren Betreten schon Dante über dem Eingang zur Hölle warnt: „Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“. Wie auch immer: Man sollte die Ausstellung gesehen und den instruktiven Katalog gelesen haben. Man wird dann um eine dunkle Antwort reicher sein.
(ham)