Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 30.05. – 11.10.2009 in der Fondation Beyeler, Riehen/Basel
Hrsg. von der Beyeler Museums AG nach einer Konzeption von Ulf Küster mit Texten u.a. von Felix Baumann, Ulf Küster und Véronique Wiesinger
Beyeler Museums AG, Basel / Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 2009, ISBN 978-3-905632-76-7, 224 S., 166 Farb- und zahlr. s/w-Abbildungen, Klappbroschur, Format 30,5 x 24,5 cm, CHF 68,-- (Museumsausgabe)
Wer den Namen Giacometti liest, denkt an auf die wesentlichen Formen reduzierte, in ihren Extremitäten übertrieben dünne Figuren mit aufgerauhten Oberflächen wie die ‚Grande femme III’, 1960, Bronze, 237 x 31 x 54 cm, des „klassischen“ Alberto Giacometti oder seinen ‚Homme qui marche II’ von 1960. Bekannt wurde Alberto Giacometti zunächst vor allem mit seinen nadelförmigen Frauengestalten und schreitenden Männern der frühen Nachkriegsjahre. Schon weniger bekannt ist sein in einem Käfig aufgehängter Kopf mit einer überlangen Pinocchio-Nase und offenem Mund ‚Le nez’ von 1947 und sein in seinen kleinen Formaten monumental wirkender ‚Petit homme sur socle’, 1940/41, 8,1 x 7 x 4,8 cm. Und nur noch Kenner des Werks dürften sich an Alberto Giacomettis surrealistische Phase und Arbeiten wie ‚Main prise’ von 1932 erinnern, die mutmaßlich mit einem landwirtschaftlichen Unfall verbunden ist, bei dem die rechte Hand von Albertos Bruder Diego von einer Futterhäckselmaschine verstümmelt wurde.
Der Name Giacometti steht also gewöhnlich für den am 10. Oktober 1901 geborenen Alberto Giacometti und seine ins kollektive Bildgedächtnis eingegangenen klassischen Skulpturen.
Die Baseler Ausstellung zeigt darüber hinaus Beispiele aus allen Phasen seines malerischen Werks und macht damit vertraut, dass sich Alberto schon 1914 mit großem Erfolg an einem Kopfporträt seines Bruders versucht und 1921 mit seinem Selbstporträt als Kniendem und weiteren Porträts seiner Schwester, seines Bruders und seiner Eltern die Meisterschaft seines Vaters erreicht hat. Auch Albertos Vater Giovanni war Künstler mit einiger Bedeutung in seiner Heimat. Für Ulf Küster gilt er als einer der am meisten unterschätzten Künstler der frühen Moderne in der Schweiz und steht noch immer zu unrecht im Schatten seiner Freunde Ferdinand Hodler, Giovanni Segantini und Cuno Amiet. Albertos Vater war es wohl auch, der die Begabung des Sohnes entdeckt, gefördert und ihm auch letztlich den Weg zum Studium und nach Paris geebnet hat. Dort bezieht Alberto 1926 sein in den Folgejahren berühmt gewordenes Atelier in der Rue Hippolyte-Maindron 46, wo er bis an sein Lebensende arbeitet und wohnt. Ab 1928/29 stellt er regelmäßig in Paris aus und wird u.a. mit André Breton und dem Surrealismus, AndréMasson, Hans Arp, Joan Miró, Max Ernst, Alexander Calder und anderen bekannt. 1929 folgt seine Schwester Ottilia nach Paris. Albertos Bruder Diego assistiert ihm bei der Arbeit. Diego lässt sich 1930 endgültig in Paris nieder und beginnt mit der Herstellung von Kunstgewerbeobjekten. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass auch Giovannis Cousin zweiten Grades Augusto Giacometti bis heute vor allem auf Grund seiner experimentellen protoabstrakten Farbkompositionen bekannt ist.
Die Ausstellung in der Fondation Beyeler stellt Werke aus allen Perioden Alberto Giacomettis in den Kontext von Werken der anderen künstlerisch tätigen Mitglieder der Familie Giacometti und ihn ins Zentrum. „Wie viele hochbegabten Menschen oder Genies war Alberto ein Egozentriker im besten Sinne, der sich als Mittelpunkt eines Systems von Personen, Erinnerungen und künftigen Geschehnissen sah…. Künstlerisch waren für Alberto alle Familienmitglieder wichtig; alle dienten ihm als Modelle… Auf die Hilfe und das Geschick seines Bruders Diego konnte er sich verlassen… Die anderen Familienmitglieder begegnen … auf den Bildern des Vaters und Albertos und in dessen Plastiken. Dabei ist sicher, dass allein die Präsenz der Eltern und Geschwister als Modelle für Alberto einen ähnlichen, wenn nicht sogar einen grösseren Wert hatte als deren eigene künstlerische Produktion“ (Ulf Küster). Im Ergebnis bestätigt sich die Erkenntnis, dass auch geniale Anlagen in ihrem Umfeld entdeckt und gefördert werden müssen, wenn sie zum Tragen kommen sollen, dass das Pariser Umfeld den Welterfolg von Alberto Giacometti mit begründet hat, ist offenkundig.
(ham)