Hrsg. von Nicolaus Schafhausen, Caroline Schneider und Monika Szewczyk
Witte de With Publishers, Rotterdam / Sternberg Press, Berlin, 2008, 128 S., englisch /deutsch / niederländisch, Broschur Format 18,5 x 12,4 cm, € 14,90
Längere Aufsätze über Grundfragen der Kunst verlangen Spezialformate, die in aller Regel ohne Gewinnerwartung produziert werden oder von vorne herein in die graue Literatur einwandern wie z.B. die Artheon-Mitteilungen. Deshalb erstaunt es und hat seinen eigenen Reiz, dass Witte de Wirth Publishers und Sternberg Press ihre neue Reflections-Reihe ausgerechnet mit Diedrich Diederichsens Essay über den Mehrwert in der Kunst eröffnen.
Man folgt den Herausgebern in ihrem Vorwort gerne, wenn sie schreiben, dass Diederichsen die marxistische Theorie des Mehrwerts so diskutiert, dass sie eine Rationalisierung der Wertbildungsprozesse in der zeitgenössischen Kunst ermöglicht. Im ersten Kapitel liegt der Fokus auf der Karriere von Kunst, an der Galeristen und Sammler spätestens nach dem Tod der Künstler durch exorbitante Wertsteigerungen profitieren können wie etwa bei Martin Kippenberger. Diederichsen kommt zum Zwischenergebnis „dass die Kunst, mit der man Spekulationsgewinne machen kann, auf der Kunst, die durch Zyklen künstlerischer Mehrwertbildung durch Begründung oder Erlebnis sich rechtfertigen musste, aufruht …. Das Begründungsbedürftige und seine Diskurse machen zwar das Futter des Betriebs, der Konversationen und der Ideenbildung aus, aber darunter lagert das fette Fleisch der Kunstökonomie. Das ganz Alte als Neues… Der Mehrwert als Pointe oder Erlebnis-Überschuss ist also mittelbar auch für den ökonomischen Kernbereich, die zentrale Verwertung von Kunst wichtig. Die Frage ist nur, was für eine Art Ware dort eigentlich hergestellt und verkauft wird und wie sie wertvoll wird“ (Diedrich Diederichsen).
Im zweiten Kapitel verschiebt Diederichsen den Blick auf die ökonomische und werttheoretische Seite jeder Produktion zeitgenössischer Galerienkunst. Der Künstler erscheint wie der Galerist als Unternehmer, der dann am meisten verdient, wenn er möglichst viel fremde Arbeitskraft in die Produktion seiner Ware steckt. „Die spezifische Erfolgserwartung an den Gegenwartskünstler trifft sich hier mit der Marx’schen Mehrwertformel: er soll soviel wie möglich frisch und neu produzieren (variables Kapital, Mehrwert), aber auf der Basis eines einmal erworbenen Namens (konstantes Kapital)“ (Diedrich Diederichsen).
Der Spekulationswert kommt durch andere Eigenschaften des Werkes zustande als durch den Wert der im voraus geleisteten Arbeitsstunden. „Voraussetzung … seiner Herstellung ist ein sozusagen erster Kunstwert, der im Mittel durch die notwendigen Arbeitsstunden plus Mehrarbeit/Mehrwert tatsächlich entstanden ist… Es muss einen alltäglichen Kunstmarkt geben, bei dem ein solches Mittel rational die Preise bestimmt, die für einen Künstler und seine Arbeit gezahlt werden…. Der … Nachfrage nach …singulären Objekten kommen die Künstler nach, indem sie konkrete Singularitäten herstellen… Zur Normalität des Exzeptionalismus der Kunst gehört, dass sie aus lauter Objekten besteht, die keinen alltäglichen Gebrauchswert zu haben scheinen und daher nur hochgeschraubte Tauschwerte und Tauschwertfetische zu sein scheinen…Für die Spekulation ist nun nötig, dass sie die Möglichkeit hat, sich weit von dem Wert zu entfernen, aber in ähnlicher Weise einen Diskurs über die Angemessenheit zu führen und in ihn zu investieren, wie das auch da geschieht, wo Preis und Wert noch in dem normalen, wenigstens scheinhaften Verhältnis zueinander stehen“ (Diedrich Diederichsen).
Dieser zu führende Diskurs ist darauf angelegt, den Spekulationswert zu verklären und gegen rationale Argumente abzuschotten. Bei Kunstwerken mit Warencharakter wie bei Multiples und Readymades ersetzt eine Art metaphysischer Index die Aura des Einzelwerks und macht sie zu Fetischen.
Im dritten Kapitel untersucht Diederichsen die Wertkrise bei Künsten, die die Anwesenheit von Künstlern verlangen, wie z. B. im Theater, aber durch mechanisch hergestellte Produktionen der Kulturindustrie konterkariert werden. Für Diederichsen werden Produkte wie Video- und Konzertmitschnitte sekundär auratisiert. Sie tragen auf der Billig- wie auf der Hochpreisebene zum Überleben des Systems bei. In der Tendenz entstehen zwei kulturelle Welten: Eine, in der das rein physische Talent, die Lebendigkeit und Bewegungsfähigkeit und andere performative, flüchtige, erotische und energetische Attraktionen prämiert werden. Und eine andere, in der weiterhin auratisierte Objekte in Umlauf gebracht werden, deren „zentrale Funktion darin besteht, ersten und zweiten Wert, dazugehörige Wertbildungsumgebungen, diskursive und schweigende und andere tote Arbeit mit lebendiger Arbeit zusammenzubringen… Die in sich heterogene Post-Bourgeoisie aus Profiteuren der aktuellen Weltordnung … wird einen anderen Künstler-Mythos hervorbringen als die alte Bourgeoisie. Dieser wird wie schon der alte Mythos um ein Idealbild dieser Post-Bourgeoisie herum gebaut sein: ein exzessives, hedonistisches, mächtiges Monster, das mit dem alten Künstler die Begeisterung für Befreiungsakte teilt, aber weit entfernt sein wird von politischen und kritischen Verpflichtungen“ (Diedrich Diederichsen).
Im Diskurs mit Diederichsen wäre u.a. die Frage interessant, wie er das ökonomische Scheitern des marxistisch orientierten Staatskapitalismus sowjetischer Prägung und den enormen ökonomischen Erfolg Chinas für seinen Ansatz fruchtbar machen könnte. Weiter die Frage, ob es im Kunstsystem nicht so etwas wie einen Wissens- und Produktivitätsfortschritt analog zum Wissenschafts- und Wirtschaftssystem westlicher Provenienz gibt. Und schließlich, gleichsam als Fußnote die Frage, ob seine Argumentation eine andere Wendung genommen hätte, wenn sie nach dem Clash des Finanz- oder Casino-Kapitalismus im Herbst 2008 geschrieben worden wäre.
Die Herausgeber haben in ihrem Vorwort zum ersten Band der neuen Reihe davon gesprochen, dass ‚Reflections’ mit Ergebnissen bestimmter Denkprozesse bekannt machen möchte, die das Potential für weitere Debatten in sich tragen. Der erste Band ist dieser Aufgabe voll und ganz gerecht worden. Es bleibt die letzte Frage, wo, wann, wie und mit wem die durch Diederichsen angestoßenen und weitere mögliche Debatten geführt werden können.
(ham)