Personal Map To Be Continued ...
Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 08.10.2011 - 08.01.2012 im Marta Herford mit Texten von Friederike Fast, Andrea Jahn, Beral Madra und Roland Nachtigäller
Marta Herford, Kerber Verlag Bielefeld/Leipzig/Berlin, 2011, ISBN 978-3-86678-591-5, 288 S., 8 s/w- und 504 Farbabbildungen, Klappenbroschur, gebunden, Format 29 x 23,5 cm, € 36,50 / SFR 49,50
Die 1970 in Kirsehir, Türkei geborene Performerin Nezaket Ekici hat nach Studien unter anderem bei Heribert Sturm an der Akademie der Bildenden Künste München und bei Marina Abramovic an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig zahlreiche Stipendien erhalten und zwischen 2000 und 2011 ein beeindruckendes Werk von nicht weniger als 65 für sie gültigen und in diversen Variationen weltweit ausgeführten Performances vorgelegt. Ekici bezeichnet sich selbst als „nomadische Performerin" und geht davon aus, dass Räume überall anders sind. Deshalb „ist es wichtig und interessant, Perfomances mehrmals an unterschiedlichen Orten zu wiederholen. Die Performance wird jedes Mal zu etwas Neuem, durch die Verschiedenheit der Räume, das andere Publikum, durch den jeweiligen kulturellen Kontext, durch mich" (Nezaket Ekici). Ihre Performances zeichnen sich „durch eine (für nahöstliche Kulturen nicht untypische) Opulenz aus. Diese Üppigkeit spiegelt sich vor allem in den aufwändigen Kostümen, die die Künstlerin oftmals in türkischen Schneidereien anfertigen lässt. So entwickeln die besonders präparierten Kleider... mit ihren ausladenden Röcken oder meterlangen Schleppen skulpturale Qualitäten. Die rüschenbesetzten Kleider in ‚Daydream' (seit 2006) oder ‚Catch a Turkish Kiss' (2001) umspielen den Körper... wie dichte Blüten, während die roten Kleider in ... ‚Atropos' (seit 2006) energisch-kämpferisch weibliche Energien verkörpern ... Das Kleid aus Urin-Beuteln von ‚Fountain' (seit 2003) ... vermittelt als übriggebliebenes Relikt auf einem Sockel auch unter Abwesenheit der Künstlerin effektvoll die Idee von einer lebendigen Brunnenskulptur.... Andere Utensilien der Performances entwickeln einen fetischhaften oder reliquienhaften Charakter..." (Friederike Fast). Für Roland Nachtigäller erlaubt das bisher vorgelegte Werk eine erste „retrospektifische Bestandsaufnahme" und damit auch so etwas wie eine erste Quintessenz des als ‚künstlerisches Lebensprojekt' angelegten Werks. Für die Begegnung von Kunst und Religion werden die 2004 in Brunswick und 2007 in Nordhorn eingerichteten Performance-Installation ‚No Pork but Pig' und die 2011 in Varazdin eingerichtete Performance-Installation ‚Flesh (No Pig but Pork)' in ihrer multikulturellen Sensibilität zur Herausforderung: In ‚No Pork but Pig' sitzt Ekici während dieser Performance in einem einfachen, mit frischem Stroh ausgestreuten „ hölzernen Gehege im Ausstellungsraum, vollständig schwarz verschleiert mit Burka-ähnlichem Tuch, Handschuhen und Schuhen. Gemeinsam mit ihr befindet sich in dem mit zwei Reihen Stacheldraht abschließendem Koben ein kleines Schwein. Über mehrere Stunden versucht sie langsam Kontakt mit dem Tier aufzunehmen, sein Vertrauen zu gewinnen, es schließlich ausgiebig zu streicheln. Auch für christlich sozialisierte Betrachter ist die Codierung des Arrangements ebenso schnell einsichtig wie die damit assoziierten Herausforderungen auf der Hand zu liegen scheinen: Burka, Tschador, Verschleierung - Schweinefleisch, unreine Tiere, Berührungsverbot - kreative Unschuld, Kindchenschema, Gottesgesetz. Die Assoziationsketten sind unmittelbar wirksam, prägen das Bild des Gesehenen und führen am Ende doch zu erstaunlich offenen Fragen. Denn bei genauerem Hinsehen entdeckt man in diesem intensiven Bild eine unerwartete Vielschichtigkeit: So wird im islamischen Glauben beispielsweise zwar ein Berührungstabu für Schweine verbreitet, dieses ist jedoch nicht im Koran begründet. Außerdem entdeckt man bald, dass Ekici eben nicht wirklich unter einem Tschador steckt, sondern schwarze, seidene Unterarmhandschuhe, elegante Pumps und einen nur grob zu einem Umhang zusammengenähtes Tuch trägt. Es war faszinierend zu beobachten, wie die zahlreichen Besucher [gt][gt]mit Migrationshintergrund[lt][lt] ... weit weniger verwirrt als interessiert waren" (Roland Nachtigäller). In ‚Flesh (No Pig but Pork)' kniet die Künstlerin in schwarzer Unterwäsche „in dem Fleischhaufen eines frisch geschlachteten Schweines. Sie trägt einen Augenschutz und Gummihandschuhe, die auf das islamische Verbot hinweisen, Schweinefleisch zu essen und anzufassen. So ausgestattet, hält sie die Fleischbrocken in der Hand und riecht daran, als untersuche sie, was dieses Verbot begründet. Ihr Ein- und Ausatmen wird mit Mikrofonen aufgenommen und ist deutlich im Raum zu hören. ..." „Plötzlich hielt sie ein großes Stück vor ihr Gesicht und begann im Zuge der intensiver werdenden Performance diesen Geruch geräuschvoll einzusaugen. Die Bewegungen wurden zur Choreographie als Nezaket anfing zu tanzen und riesige Brocken von Schweinefleisch zu liebkosen, während sie diese an ihre Nase führte. Es schien so, als ob der Geruch des Rohen sie überwältigen und ihre Beharrlichkeit in der Auseinandersetzung mit dem kulturell [gt][gt]Anderen[lt][lt] unterstreichen würde, indem sie mit ihm durch direkten physischen und sensorischen Kontakt verschmolz. Diese menschlichen Qualitäten waren so überzeugend, dass das Publikum sie augenblicklich erkannte und mit lautem Applaus bekräftigte, als die Künstlerin die Bühne verließ" (Branko Franceschi). In Arbeiten wie der 2006 im Rahmen der Sinop Biennale eingerichteten performativen Installation ‚Atropos' geht Ekici an körperliche Grenzen. "Die Künstlerin steht in der Mitte der Frauenzelle eines ausgedienten Gefängnisses in Sinop, Türkei. Ihre langen Haare sind mit hunderten von Seilen an der Decke befestigt. Unter heftigem Zerren versucht sie, sich aus ihrer [gt][gt]Gefangenschaft[lt][lt] zu befreien und scheut auch nicht vor ruckartigen Bewegungen des Kopfes zurück. Dabei reißen Haare heraus, bis sie schließlich einen Teil ihrer Hare mit der Schere abschneidet. Der Titel ‚Atropos' spielt auf die gleichnamige griechische Schicksalsgöttin an, die mit einer Schere den Schicksalsfaden durchtrennt, an dem das menschliche Leben hängt" (T. Melih Görgün). Für Roland Nachtigäller entwickelt die Performancekunst von Ekici „ihre Faszinationskraft und ihre bildliche Schärfe vor allem aus dieser entwaffnenden Unmittelbarkeit, mit der eine Künstlerin den Spagat zwischen den kulturellen, symbolischen, gesellschaftlichen und religiösen Referenzsystemen mit jedem Tag persönlich (er)lebt und ihn zugleich pointiert, ironisch, wütend, augenzwinkernd, entschlossen und enorm sinnlich auf der Bühne ihrer Kunst präsentiert. Dieses Fließen der Farben und Bedeutungen, das Sichtbarwerden eines längst aufgeweichten und unterkühlten, in jedem Falle aber mit halsbrecherischen Falten versehen Terrains der tradierten oder verordneten Gewissheiten ist das Feld, auf dem sich Ekici mit souveräner Leichtigkeit und zugleich beklemmender Zudringlichkeit bewegt. Es wäre ein absurder Widerspruch in sich, wenn eine solche Suche, eine derartige Befragung der Werte- und Symbolsysteme und ihrer Kreuzungen sich nicht selbst immer wieder und mit vollem Risiko in allen Teilen der Welt neu erprobt..." (Robert Nachtigäller).
(ham)