Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 26.10.2010 - 06.02.2011 im Haus der Kunst München
Hrsg. von Chris Dercon, Marlene Dumas, León Krempel und Jolie van Leeuwen mit Texten unter anderem von Chris Dercon, León Krempel und Marlene Dumas
Haus der Kunst, München/Richter Verlag, Düsseldorf, 2010, 112 S., ISBN 978-3-941263-20-8, zahlreiche Farbabbildungen, Klappenbroschur, Format 27 x 20,7 cm, € 32,--
Überformte Totenschädel aus Jericho aus dem achten vorchristlichen Jahrhundert, Mumienporträts auf ägyptischen Särgen und zahllose Herrscherporträts belegen die Kulturen und Zeiten übergreifende Faszination der Menschenbilder. Je nach Vorstellung wollte man dem Abgebildeten im mimetischen Sinne nahe kommen oder die Abbildhaftigkeit geradezu vermeiden, weil man glaubte, dass das, was die Person ausmacht, sich am vergänglichen Äußeren nicht zeigen lässt. Mit dem Aufkommen der Fotografie verloren die gemalten Porträts mehr oder weniger an Bedeutung. Und wenn die 1953 in Kapstadt geborene und seit 1976 in Amsterdam lebende Marlene Dumas in ihrer Münchner Ausstellung Bilder unter anderem von Naomi Campbell (1995), Osama Bin Laden (2006/2010), Saddam Hussein (1993), Hitler (1995) und Heidegger (1993) malt, handelt es sich weniger um Porträts im überkommenen Sinn als um Ausdrucksstudien oder Masken. „Der Aspekt der Zeitgeschichte ist mir nicht so wichtig. Ich ziehe meine Figuren ungern an, male keine Frisuren, will nicht illustrieren. Und es ist sicher kein Zufall, dass meine Gesichter immer abstrakter werden, dass ihnen Vorder- und Hintergrund vollkommen verloren gegangen sind. ... Ich sehe die Arbeit an einem Bild als Performance. Ich mag diesen Zustand intensiver Konzentration, in dem man schnell reagiert, statt - wie es mir häufiger mit großen Bildern ergeht - zu verändern. Es ist besser, wenn die Bilder einfach auftauchen" (Marlene Dumas in der Süddeutschen Zeitung Nr. 251 vom 29.10.2010, S. 11). Auch ihre eindrückliche Serie von Jesus-Bildern aus dem Jahr 1994 hat entschieden mehr mit den der Künstlerin im Malprozess verfügbaren bewussten und unbewussten Imaginationen als mit der historischen Person zu tun, von der es keine Bilder gibt. „Meine Porträts von Jesus oder Christus haben viele unterschiedliche Formen angenommen, aber wichtig ist dabei die Tatsache, dass das Bild Christi von Anfang an metaphorisch und abstrakt ist. Es gibt kein Original, das sich kopieren ließe. Die Bibel enthält keine Beschreibung seines Erscheinungsbildes. Wir wissen nicht, wie er aussah. ... Jesus, der höchste christliche Märtyrer, findet seinen Widerhall in dem populären Medienbild des zeitlos jungen Bin Laden. Auch wenn ich nie mit echten Originalen arbeite, behandele ich alle meine Modelle ein wenig wie Erzeugnisse meiner Imagination, wenngleich ich auch eine Ähnlichkeit anstrebe. Eigentlich ist der Schädel das wesentliche Gesicht, der Anfang der Porträtkunst, nicht ihr Ende. Bevor die Maske entsteht" (Marlene Dumas). Mit einigem Recht können die Menschenbilder von Marlene Dumas deshalb auch als späte Gestalten der in den Niederlanden vor allem im 17. Jahrhundert populären Tronies verstanden werden. Tronies im Sinne von Kopf- und Charakterstudien sind unter anderem von Peter Paul Rubens (Tronie eines bärtigen alten Mannes, ca. 1609/10), Rembrandt (Tronie mit offenem Mund/Selbstbildnis, 1630) und von Johannes Vermeer (Tronie einer jungen Frau/Mädchen mit dem Perlohrring, ca. 1665 - 1667) bekannt. Sie haben in den Musterbüchern des 15. Jahrhunderts frühe Vorläufer, changieren in ihrem Charakter zwischen Werkstattmodell und autonomem Kunstwerk und wurden auch Teil der populären Bildkultur. „Was in den Tronies des 17. Jahrhunderts nur unterschwellig vorhanden ist, machen Marlene Dumas' Arbeiten explizit. Sie thematisieren nicht das Individuum als solches, sondern legen Zeugnis davon ab, wie sich Künstler und Betrachter diesem gegenüber verhalten. Auch das autonome Kunstwerk, das zugeich eine Metapher für das Individuelle ist, steht bei ihr niemals allein, sondern nimmt ... etwas von seinen Nachbarn auf" (León Krempel). Deshalb ist es nur konsequent, dass die Münchner Ausstellung die Bildnisse von Dumas zusammen mit historischen Tronies präsentiert. Der Mörder van Goghs (‚The Neighbour', 2005) wird neben den beiden Bin Laden-Porträts (‚The Pilgrim', 2006; ‚Osama', 2010) und Peter Paul Rubens' bärtigem alten Mann gezeigt. „Es ist, als würde man Menschen zusammen bringen..." (Marlene Dumas in der Süddeutschen Zeitung a.a.o.).
(ham)