Zeichnungen und Räume zu Barbara Suckfüll
Hrsg. von der Sammlung Prinzhorn Heidelberg in der Reihe [gt][gt]antworten[lt][lt] aus Anlass der Ausstellungen 2007/2008 des Kunstvereins Reutlingen, der Galerie Parterre, Berlin und des Kunstvereins Ellwangen.
Snoeck Verlag Köln, 2009, ISBN 978-3-940953-07-0, 158 S., zahlreiche Farbabbildungen, Klappenbroschur mit fünf Lesebändchen, Format 26 x 20,8 cm, € 19,80
Die 1857 geborene Bäuerin Barbara Suckfüll hat 50 Jahre lang in einem Dorf gelebt, als umsichtig und fleißig gegolten und sieben Mal geboren. Dann begann sie, Telefonstimmen zu hören, unregelmäßig zu arbeiten, zu prozessieren, zu schreien und zu toben und sich in geschlechtlicher Erregung Kindern und Polizisten zu nähern. Ihr Mann kann das Geld für die offensichtlich notwendige Behandlung nicht aufbringen und lässt sie in eine Anstalt überweisen. Dort verweigert Suckfüll die Anstaltskleidung, will ihre Zelle niemals verlassen und nimmt auch keinen Kontakt zu anderen Patienten auf. „Bald nach ihrer Einweisung beginnt das Schreiben: [gt][gt]Geben sie mir Papier, so viel sie wollen, ich schreib alles voll, ich brauch mich gar nicht zu besinnen u. anzustrengen, das läuft mir alles nur so in die Feder, die Stimme sagt mir alles was ich schreiben soll u. ich brauch nur die Feder einzutunken u. zu schreiben. Nicht aus freien Willen habe ich das geschrieben, o nein, das hätte ich sicherlich nicht schreiben können, o nein, das floss wie vom Telefon aus mir aus der Feder[lt][lt] (Barbara Suckfüll). Über ihre Zeichnungen berichtet der Arzt 1912: [gt][gt]Malt und zeichnet die Konturen ihres Essens, des Essgeschirrs..., schreibt dann das ganze Papier kreuz u. quer voll, heftet die einzelnen Blätter zusammen und überreicht es dem Arzte. Sie glaubt, damit eine wertvolle Arbeit geleistet zu haben, verlangt auch ... eine hohe Geldsumme für diese Arbeit[gt][gt]. Von den Blättern sind in der Heidelberger Sammlung Prinzhorn nur wenige erhalten geblieben. Sie bilden den Ausgangspunkt für Peter Rieks Beschäftigung mit Barbara Suckfüll. Zwischen 2006 und 2008 sind über 300 Zeichnungen und Rauminstallationen zu den Blättern von Barbara Suckfüll entstanden. Riek verwendet für seine Zeichnungen eine Fettkreide, mit der man auf Ölbildern zeichnen kann. „Sie besteht nur aus Ruß, Terpentin und Wachs und hat einen Durchmesser von 30 Millimetern. Mit der schwärze ich Blätter auf einer Seite, erzeuge sozusagen Durchschreibpapiere. Das drehe ich um und zeichne auf der Rückseite, so dass sich die Zeichnung auf einem darunter liegenden zweiten Blatt niederschlägt.... Was entsteht, ist fast eine Monotypie. Mir erlaubt die Methode, noch einmal den unverstellten Blick zu haben, frisch beurteilen zu können, ob es eine gute Zeichnung ist. Man sieht das Resultat wie ein Fremder"...Anschließend gehe ich noch einmal mit anderen Farben über die Zeichnung: mit Ölfarben oder Lacken oder transparenten Papieren. So ergibt sich eine zweite oder dritte Ebene zum Papier und zu den Zeichnungen" (Peter Riek). Als Grundlage dienen zumeist Seiten aus alten Geschäftsbüchern und Schulheften, die Riek auf dem Flohmarkt gekauft hat. „Ein Übungsheft zeigt zum Beispiel immer wieder die Zeile [gt][gt]Aller Anfang ist schwer[lt][lt]. Diese akkurate, eingebläute Schönschrift hat auch die Bäuerin Suckfüll lernen müssen. Nur gibt es in ihrem Schreiben eben diesen inhaltlichen Leerlauf - scheinbar; wenn man es als poetischen Akt sieht, natürlich nicht. Vielleicht war ihre Erkrankung die einzige Möglichkeit, der Pflicht und dem Zwang ihrer fordernden Lebenswelt ... zu entkommen... Mich fasziniert die seltsame Orthographie. Indem sie nach jedem Wort einen Punkt setzt, ordnet sie das Schriftbild der Zeichnung unter. Das sieht man auch daran, dass sie ein Wort trennt, wenn es aus formalen Gründen nötig ist, etwa wegen eines Tellerrandes. Es gibt z.B. eine Stelle, da schreibt sie ein [gt][gt]z[lt][lt] vor der Tellerrandlinie, setzt dann einen Punkt dahinter und schreibt [gt][gt]eichnete[lt][lt] hinter der Tellerlinie weiter. Die Form hat Vorrang vor dem Geschriebenen, radikal. Sie opfert deutlich die geschriebene Botschaft. Ich sehe sie als Zeichnerin" (Peter Riek).
(ham)