Publikation zur gleichnamigen Ausstellung in der Villa Schöningen, Potsdam, vom Oktober 2010 bis Januar 2011
Hrsg. von Mathias Döpfner und Walter Smerling mit Texten von Heiner Bastian, Norman Rosenthal und einem Brief von Anselm Kiefer an Mathias Döpfner
Villa Schöningen/Edition Heiner Bastian im Schirmer/Mosel Verlag, 2010, ISBN 978-3-8296-0521-2, 2010, 56 S., zahlreiche Farbabbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 30,5 x 23,5 cm, € 45,-
In Anselm Kiefers Gemälden werden Meere auf den Anfang und das Ende hin durchsichtig (Am Anfang, 2008), Berge auf das Wesen der Dinge (Essence, 2011), Palmblätter auf ihren religiösen Bezug (Palmsonntag, 2011) und Stufentürme auf ihren kultur- und menschheitsgeschichtlichen Hintergrund, die ersten Stadtkulturen zwischen Euphrat und Tigris. Analog lässt seine Europa-Serie zwar auch an seine Zeit als Hirtenbub im Schwarzwald denken. Damals gab es in seinem Dorf noch keine Traktoren; die Wagen wurden von Kühen gezogen. Und als er in der Auvergne gewandert ist, haben ihn die Kühe in die Zeit als Hirtenbub zurückversetzt. „Das aber, für sich genommen, macht noch kein Bild. Es ist nur die Motivation" (Anselm Kiefer). Aber dann „schleicht sich ... von Anfang an viel Anderes hinein, alles, was man am Beginn der Arbeit noch nicht weiß. Und doch weiß man es, es hat sich nur noch nicht gezeigt. Z.B. Europa, der Raub der Europa, die Entführung der Europa durch einen Stier nach Kreta" (Anselm Kiefer). Spätestens mit der Benennung seiner Malereien mit Namen wie ‚Europa', ‚Europa Pasiphae' und ‚Pasiphae' werden seine Malereien auf ihre mythologischen Vor- und Hintergründe hin durchsichtig. Die Kühe sind nicht mehr einfach Kühe, sondern Symbole für die Geburt des Abendlandes aus dem Geist der griechischen Antike und Mythologie. Dass Kiefer sich mit seiner bisher auf ein gutes halbes Jahrzehnt angelegten Serie in die lange Tradition der malerischen Auseinandersetzung mit dem Motiv Kuh von Paulus Potters ‚Der junge Stier' von 1647 bis zu Marc Chagalls ‚Ich und mein Dorf' und Franz Marcs ‚Die gelbe Kuh' von 1911 einreiht, belegen Norman Rosenthals ‚Gedanken über Kiefer und Kühe' eindrücklich. Aber auch dabei bleibt Kiefer nicht stehen. Seine Kühe werden für ihn zu Projektionsflächen für die großen politischen, mythologischen und metabolischen Metamorphosen, so für die politische Metamorphose Europas nach 1989 und Europas Osterweiterung, für die mythologische Metamorphose von Gott in einen Stier und für „eine viel allgemein gültigere, diejenige vom Vegetativen zum Seelischen: im Verblühen der Nahrung im Darm, im Metabolismus, geschieht eine Entmaterialisierung. Die Kühe! Wenn sie nichts fressen, käuen sie wieder. Die indische Medizin hat im Darm Strukturen wie im Hirn festgestellt. Der gröbere Teil unseres Gedächtnisses sitzt in den Windungen des Darms. Es gibt eine Stelle bei Quevedo, ... wo er von Exkrementen spricht, die Leben und Tod bedeuten, vom Dünger, von der verfaulten Sonne, und von da überleitet zu der Akkumulation des Kapitals bei den Calvinisten..." (Anselm Kiefer)
(ham)