Publikation zu den Ausstellungen vom 26.11.2010 - 06.02.2011 in der kestnergesellschaft, Hannover, vom 26.03. - 03.07.2011 in S.M.A.K., Ghent und vom 15.09. - 13.11.2011 in der Kunsthalle Nürnberg
Hrsg. von Veit Görner, Martin Germann, Kristin Schrader, Philippe Van Cauteren, Thomas Caron und Ellen Seifermann mit Texten von Birgit Sonne und den Herausgebern
kestnergesellschaft, Hannover / S.M.A.K., Ghent, Kunsthalle Nürnberg / Distanz Verlag, 2011, ISBN 978-3-942405-24-9, 200 S., zahlreiche s/w- und Farbabbildungen, Hardcover gebunden, Format 24 x 16,9 cm, € 28,-- (Museumsausgabe)
Wer die Liste der von Michael Sailstorfer noch zu Studienzeiten absolvierten Einzel- und Gruppenausstellungen und die dort vorgestellten Werke zur Kenntnis nimmt, ist mehr als erstaunt: Schon mit ‚Heimatlied' aus dem Jahr 2001 gelingt der internationale Durchbruch. Heimatlied ist ein aus vier Wohnmobilen zusammengesetztes voll funktionsfähiges Kleinsthaus in den Maßen 375 x 360 x 410 cm. Im selben Jahr entstehen mit Betten, Küchen, Tischen, Stühlen, Regalen, Toiletten, Türen, Beleuchtung, Strom und Wasser ausgestattete Bushaltestellen und das Porträt ‚Herterichstraße 119'. Das Haus Herterichstraße 119 „wurde vor seinem Abriss fotografiert. Aus dem Abbruchmaterial wurde ein Sofa gebaut, das in Farbe und Design ein Porträt des Hauses ist. Das Foto des Hauses hängt gerahmt über dem Sofa." In dem Video ‚Sternschnuppe' von 2002 dokumentiert Sailstorfer den Abschuss einer Straßenlaterne von einem über seinem Mercedes gebauten Katapult. Da die Straßenlaterne den Nachthimmel noch nicht annähernd erreicht und nach wenigen Sekunden abstürzt, wird das Video zum Dokument eines vorhersehbaren Scheiterns. Zugleich stehen das Video und die vorausliegenden Arbeiten für Sailstorfers „poetisches Verständnis von der Welt, in der wir leben. So wie ein Kind, das seine Umgebung entdeckt und sie unter seine Kontrolle zu bringen versucht, verwandelt Sailstorfer gewöhnliche Alltagsgegenstände in ästhetische Objekte mit einer eigenen ihnen innewohnenden Logik" (Thomas Caron). Sailstorfer Transformationen schaffen eine Brücke zwischen konkreter Alltagstauglichkeit und Kunstobjekt. „Man muss als Betrachter nichts wissen. Man sieht, hört, riecht und versteht alles, ohne durchtrainierte Intellektualität, Hintergrundwissen oder Gebrauchsanweisungen" (Veit Görner). Aus einem Polizeibus wird ein Schlagzeug (Schlagzeug, 2003), aus einem Sportflugzeug ein Baumhaus (D-IBRB, 2002) und aus einem Betonmischer eine Popcorn-Maschine (1:43-47, 2008). Gemeinsam ist diesen Arbeiten „die Ästhetik des Handgemachten und der Austausch von Funktionen: Aus Fahr- und Flugzeugen wurden immobile Behausungen, der sich geräuschvoll drehende Betonmischer produziert süß duftendes Popcorn, und aus dem Polizeibus wurde ein komplettes Schlagzeug" (Ellen Seifermann). In vielen seiner Arbeiten beschäftigt sich Sailstorfer mit Zeit und Vergänglichkeit. So dreht sich in der seit 2005 mehrfach variierten Installation ‚Zeit ist keine Autobahn' „ein einzelner, motorgetriebener Autoreifen unablässig vor einer Wand. Doch aus der Rotation folgt kein Vorankommen, erzeugt sie doch nur schwarzen Reifenabrieb, Motorengeräusch und üblen Gummigeruch, und zerstört so nach einiger Zeit den Reifen selbst. Die Bewegung der Skulptur ‚Zeit ist keine Autobahn' steht in einem paradoxen und zugleich tragisch-komischen Verhältnis zu ihrer Vergänglichkeit. Eine in ähnlicher Weise sich selbst verzehrende Skulptur war ‚3 ster mit Ausblick' (2002, in Kooperation mit Jürgen Heinert). Das Holz einer Hütte wurde so lange verfeuert, bis nur noch der rauchende Ofen übrigbleibt" (Ellen Seifermann).Michael Sailstorfer knüpft in seinem Verständnis zur Skulptur zwar unter anderem an Fluxus und Happening, Joseph Beuys und die kinetische Kunst an, aber er geht darin nicht auf. Deshalb kann sein Werk mit jeder Arbeit eine neue Wendung nehmen. Insofern macht der jetzt vorliegende erste Überblick über Michael Sailstorfers vielschichtiges Werk Lust auf mehr.
(ham)