Wilhelm Fink Verlag, München, 2011, ISBN 978-3-7705-5030-2, 477 S., 373 s/w-Abbildungen, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 24 x 16,5 cm, € 39,90
Für Thomas Macho ist die Form auch in der Moderne nicht nebensächlich geworden. Sie folgt nicht einfach, wie es Louis Henri Sullivan vorschlug, der Funktion. Sie ermöglicht vielmehr die Gründung jeder Welt. Schon nach der hebräischen Bibel herrschen vor der Schöpfung Chaos, Formlosigkeit und Leere. Die Erde war wüst und leer und erst ein „mächtiger Trennungszauber verwandelte Chaos in Kosmos, in Systeme geordneter Formen und Bedeutungen" (Thomas Macho). Aber auch der mit Formverlust assoziierte Modernisierungsprozess lebt von Formen. „Moderne Lebenswelten werden als chaotisch, amorph und verwirrend charakterisiert; das Tempo der Veränderungen und wechselnden Ansprüche überfordert selbst ein flexibles Bewusstsein. Die Formen verfehlen die Funktionen, während sie ihnen noch zu folgen scheinen; dabei haben sie längst die Herrschaft über das Reich der Zwecke angetreten. Tatsächlich ist die Moderne ein Zeitalter des Triumphs der Formen und Vorbilder: in Kunst und Wirklichkeit" geworden (Thomas Macho). Für Macho bildet sich die Welt erschaffene Kraft der Form in der einen Grundbedeutung des Begriffs Vorbild ab. „Einerseits bezeichnet er den antizipierenden Entwurf, das Modell, den Versuch einer visuellen Repräsentation von Zukunft, andererseits ein normatives Ideal, eine bestimmte Art von Prominenz (etwa des Heiligen, Kreativen, Heroischen)" (Thomas Macho). Nach seiner Einschätzung wird gegenwärtig auf breiter Ebene fast verzweifelt nach Vorbildern gesucht. Zugleich aber wird der als disegno, als platonische Idee, als Zukunftsvision und als Utopie vorabgebildete Vorbildbegriff entschieden zurückgedrängt. Erstaunlich ist, „dass selbst Utopien neuerdings so unglaubhaft wirken, dass sie allenfalls als Science Fiction überleben. Erstaunlich ist der Kontrast zwischen vorbildsüchtiger Wirklichkeit und dem Mangel an theoretischen Vorbild-Analysen... Woran liegt das? Gewiss, die neuen Bildwissenschaften sind noch jung; sie konzentrieren sich häufiger auf anerkannte Kunstwerke als auf ‚Schlagbilder' oder auf die ‚Listen des Traums'... Doch sollte nicht vergessen werden, dass eine Vorbild-Wissenschaft mit einer Theorie des Phantasmas und der Bildmagie verbündet ist, wie sie in der Renaissance, von Ficino bis Bruno, entwickelt wurde; in dieser Wissenschaft wurden Vorabbilder als machtvolle Entitäten anerkannt... Anders als Bilder (im nächsten und weitesten Sinne) sind Vorbilder stets in einen Transfer zwischen Körpern und Medien verstrickt: Sie sind Anlass und Ergebnis von Beseelungs- und Verwandlungsprozessen. Ihre Untersuchung gehört zum Feld einer historischen Bild-Anthropologie" (Thomas Macho). Die in dem Band versammelten Essays sind eben dieser Bild-Anthropologie verpflichtet. Der thematische Bogen spannt sich von der Frage nach Bildern der Zukunft zu der von Peter Sloterdijk angestoßenen Debatte um die Anthropotechniken, von Pygmalions Statue bis zu den zeitgenössischen Models und von prominenten Gesichtern zu meinem Tod im Bild. „Erste Umrisse einer Bild- und Mediengeschichte der ‚meléte thanátou' demonstrieren schließlich eine mögliche Verschränkung der beiden Bedeutungen des Vorbildbegriffs: wenn das unmögliche Vorbild schlechthin, das Bild meines eigenen Todes, eine Kraft entwickelt, die zur Nachahmung eines anderen Todes verführt. Zu den umstrittenen - empirisch verifizierten, doch wenig hinterfragten - Axiomen der Moderne zählt die Annahme einer tiefen Vorbildwirkung von Suiziden: Bilder von Selbstmorden werden für außerordentlich gefährlich, ja geradezu für ansteckend gehalten. Ob Bilder leben können, bleibt ... eine Frage der Literatur ...; dass sie töten können, scheint evident" (Thomas Macho).
(ham)