Katalog zur Ausstellung im Museum Frieder Burda vom 7. Oktober 2011-15.1.2012.
Hrsg. von der Stiftung Frieder Burda, Baden-Baden und der Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn. Mit Texten von Walter Smerling, Norman Rosenthal, Peter Iden, Dieter Ronte und Anselm Kiefer. 176 Seiten, farbig illustriert. ISBN 978-3-98116-o63-5 und 978-86832-068-8. Wienand Verlag, Köln. Format: 19,2x28,4; Hardcover
„Böhmen liegt am Meer" - das wunderbare riesige Gemälde aus der Sammlung Frieder Burda hängt für ein Weilchen wieder da, wo es bei der Einweihung des Museums gehangen hatte: Gleich im Foyer - die lange weiße Wand ausfüllend, die zu den Kassen hinführt. Es ist das einzige Werk der Ausstellung, das man auch von außen sehen kann durch die Glasfront zur Lichtentaler Allee hin. Und es ist, als käme da etwas wieder in Ordnung, was sich damals im Kopf festgesetzt hat - und durch jede neue Ausstellung irritiert wird.
Aus der Sammlung Frieder Burda ist dieses mal nur dieses eine Stück „geliehen". Alle anderen kommen aus der Sammlung Hans Grothe, der auch ein „Böhmen liegt am Meer" besitzt, es aber sinnvollerweise unter diesen Umständen zu Hause gelassen hat. Denn es geht wieder einmal darum, das schon bewährte Ausstellungsprinzip durchzuspielen: Einer, der zur Sammlung gehört, wird mit einer größeren Werkschau ins Licht gehoben und die in Baden-Baden ansässigen Werke werden in einen größeren Zusammenhang gestellt.
Anselm Kiefer ist einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart - aber auch einer der am schwersten zugänglichen. Seine Bilder kommen aus der Tiefe der Vergangenheit - und sie tragen die Last der jüngsten deutschen Geschichte, also vor allem den Nationalsozialismus, die Shoah und den 2. Weltkrieg. Sie machen meist einen düsteren, unliebenswürdigen Eindruck. Es gibt wenige leuchtende Farben: Weiß, Grau, eisiges Blau und Schwarz herrschen vor. Überraschend um so mehr das brennende rostige Rot des „Fruchtbaren Halbmonds" von 2009. Und fast beruhigend lieblich das Gelb der trockenen Tulpenblätter unter himmlischem Blau des Bildes „Mutatuli" von 1991.
Dieses Bild erinnert außerdem daran, dass Anselm Kiefer auch als Literat zu verstehen ist, der nicht umsonst als erster bildender Künstler im Jahr 2008 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen hat: Seine Bilder beziehen sich fast immer auf Themen und Texte alter und neuer Literatur. („Mutatuli" holt den holländischen Dichter mit dem Pseudonym „Multatuli" und seinen Roman „Max Havelaar" aus dem Anfang des letzten Jahrhunderts zurück.). Die Bibel spielt eine große Rolle, von der Schöpfung über Babylon, die Jakobsgeschichte bis hin zum Kreuzweg Jesu - versteckt in den Bildern „Palmsonntag". Dann hat sich Kiefer intensiv mit der Kabbala beschäftigt - ausgeprägt in dem Bild „Shebirat Ha kelim", ein aufgeklebtes Kleid mit zehn Taschen symbolisiert die zehn Sephirot - und der „göttliche Wille" darüber wirkt wie ein Heiligenschein. Und dann trägt Kiefer schwer an der Bürde der nationalsozialistischen Vergangenheit - ähnlich wie Ingeborg Bachmann, die als Kind eines nationalistischen Vaters die Schuld der älteren Generation mit auf sich nimmt und in ihren Texten zu verarbeiten sucht - in tiefer Freundschaft zu dem jüdischen Dichter Paul Celan, der als Entkommener Schuld zu tragen meint. In dem Eingangsbild holt das Bachmann-Gedicht „Böhmen liegt am Meer" das Schicksal der Geschlagenen des Krieges, der Getöteten und der Vertriebenen ins Gedächtnis. Und mit den roten Mohnblüten, von denen man den Eindruck gewinnt, sie eilten alle auf den Horizont, aufs Meer zu, kommt Celans Gedichtband „Mohn und Gedächtnis" ins Bild mit hinein. Auch im Bild „Die große Fracht" sind diese Mohnkapseln neben den Sonnenblumen auf das Bleiflugzeug geheftet - und beide Dichter präsent.
Es ist übrigens, als hätte Kiefer gerade in diesen Bildern den „Mönch am Meer" von Caspar David Friedrich deprimierend weitergedacht: mit umgekehrtem Gewicht: Viel ödes Land - und nur ein schmaler Streifen Meer am Horizont, während Friedrichs Mönch auf einem schmalen Strand steht und in endloses Meer und endlosen Himmel schaut. (Auf Friedrich bezieht sich Kiefer auch offiziell häufiger). Und dann immer dieses niederdrückende Blei, das die großformatigen Bilder kaum noch transportabel macht.
Der Sammler Hans Grothe hat, wie er in der Pressekonferenz ausführlich erzählte, immer ganze Konvolute von Werken gekauft, selten nur einzelne Stücke. So ist diese wohl größte Privatsammlung mit Kiefer-Werken entstanden. Und so kommt es, dass die Sammlung der 14 Bilder „The Secret Life of Plants for Robert Fludd" hier auf einmal zu sehen ist. Der Sinn dieser Bilder verbirgt sich in der Doppeldeutigkeit des Titels, den wir lesen können als : „Das geheime Leben der Planeten" oder „Das geheime Leben der Pflanzen" - denn Mikrokosmos und Makrokosmos stehen in unauflösbarer Beziehung zueinander, sagt Anselm Kiefer - mit Robert Fludd. Und so geraten neben weiß gekalkten Zweigen und trockenen Blüten auch ein paar Schuhe, ein paar Kleider und eine ausgestopfte Gans in die Bilder der Planetenkonstellationen, Erinnerungen an die alten Stern-Mythen der Griechen.
Der sorgfältig gemachte Katalog zeigt alle ausgestellten Werke in großartigen Reproduktionen. Zwei instruktive Essays (vom Kurator der Sammlung Grothe, Walter Smerling, und von Norman Rosenthal), ein Gepräch über Anselm Kiefer mit Peter Iden, Dieter Ronte und Walter Smerling, das im Dezember 2008 aufgezeichnet worden war, und die wunderbare Dankesrede, die Kiefer bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2008 gehalten hat, machen den Katalog zu einer ertragreichen Lektüre.
(Hans-Ulrich Carl)