Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 11.09.2010 - 16.01.2011 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, K20 Grabbeplatz
Hrsg. von der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Marion Ackermann und Isabelle Malz mit Texten unter anderem von Gottfried Böhm, Johannes Stüttgen, den Herausgebern und einem Interview mit Marina Abramović
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf/Schirmer/Mosel München, 2010, ISBN 978-3-8296-0481-9, 432 S., 436 Abbildungen in s/w und Farbe, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 29,7 x 23,8 cm, € 58,-- (D)/€ 59,70 (A)/SFR 95,--
Wer Joseph Beuys nach zahllosen Ausstellungen in der ganzen Welt erneut präsentiert und damit den Anspruch verbindet, den ganzen Beuys zu zeigen, geht ein Risiko ein. Marion Ackermann hat dieses Risiko auf sich genommen und gewonnen. Der mit der Düsseldorfer Ausstellung verbundene Katalog lässt an den Umständen teilhaben. Er widmet sich unter anderem der Frage, wie man Beuys nach Beuys überhaupt ausstellen kann. Joseph Beuys' überaus große Sensibilität für Räume und für alle Aspekte der Präsentation von Kunst ist bekannt. Wer den von Beuys in Darmstadt arrangierten Beuys-Block und die Aura dieses Ortes kennt und in anderen Museen auf vergleichbar bedeutende Werkgruppen stößt, die er nicht mehr selber arrangiert hat, notiert den Unterschied. Deshalb hat es sich Ackermann nicht nehmen lassen, vor der eigentlichen Ausstellung in einer auf beinahe ein Jahr angelegten Reihe ‚Beuys Ausstellen?' mögliche Grundhaltungen im Umgang mit den Werken Beuys zu diskutieren. Im Ergebnis sollte „das umfassende und vielschichtige Lebenswerk von Beuys in seinen unterschiedlichen Facetten ... unter dem Stichwort ‚Parallelprozesse'" gezeigt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. „Auf diese Weise werden die komplexen Vernetzungsstrukturen innerhalb seines Werks sichtbar und sinnlich erfahrbar" (Marion Ackermann). Ackermann erinnert in ihrem Beitrag ‚Beuys und der Betrachter' an die von Beuys veranlassten neuen Präsentationsformen von ‚Zeige deine Wunde' im Lenbachhaus München, an seinen Vorschlag zur Neupräsentation der Figurinen von Oskar Schlemmers ‚Triadischem Ballett' in der Stuttgarter Staatsgalerie und an die verschiedenen Präsentationsformen von ‚The pack (Das Rudel)'. Letztendlich müssen nach Ackermanns Auffassung zwei scheinbar konträre Haltungen von Betrachtern zum Werk ermöglicht und evoziert werden: „das unmittelbare physische Sich-Einlassen mit allen Sinnen und zugleich eine gewissermaßen archäologische Distanz. Die Archäologie versucht, anhand von Artefakten kulturelle Zusammenhänge zu rekonstruieren. Wenn schriftlicher Quellen fehlen, sind Material und Lage der gefundenen Objekte zueinander die einzigen Indizien in diesem Prozess. So sind zwei Betrachtungsmodi verknüpft: der von Kunst mit dem von Dokumenten oder Quellen. Das bedeutet, dass immer auch jenes Moment hinzugefügt wird, bei dem es um Wissen und Erkenntnis geht" (Marion Ackermann). Neben Zeichnungen, Multiples und Objekten werden von Beuys Hauptwerken unter anderem die ‚Straßenbahnhaltestelle', die ‚Honigpumpe am Arbeitsplatz', das ‚Palazzo Regale' und ‚Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch' präsentiert und erläutert. „Die Genese von ‚Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch' ist eng mit der ‚Zeitgeist'-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau von 1982 verknüpft, an der sich Joseph Beuys mit der Atelierszene ‚Hirschdenkmäler' beteiligt... Dem Werkstattcharakter kommt innerhalb seines Werkes zentrale Bedeutung zu, da er auf das übergreifende Anliegen der Sozialen Plastik verweist. In diesem Fall lässt Beuys die Tiere zu Wort kommen, die sich im Evolutionsprozess geopfert haben sollen, damit der Mensch entstehen konnte.... ‚Die Hirschdenkmäler sind Akkumulationsmaschinen, an denen Menschen und alle anderen Geister sich treffen, um gemeinsam zu arbeiten und dabei die entscheidenden Gesichtspunkte zu besprechen, die nötig sind, den Kapitalbegriff und damit die Weltlage in die richtige Form zu bringen' (Joseph Beuys). Den Gedanken vermittelt die Rauminstallation ‚Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch' insofern, als die Werkzeuge, die sich die archaischen ‚Urtiere' einverleibt haben und die aus Arbeitsgeräten montierte ‚Ziege' das Evolutionsprinzip vergegenwärtigen" (Carmen Alonso). Die in die Rauminstallation ‚Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch' eingegangene Skulptur ‚Blitzschlag' ist erstmals vom 11.10. - 22.12.1985 in der Ausstellung ‚German Art in the 20th Century. Painting und Sculpture 1905-1985' in der Royal Academy of Arts in London ausgestellt und dort das einzige Mal von Beuys selber aufgebaut worden. Johannes Stüttgen berichtet, dass er in London vor der Skulptur folgendes numinose Erlebnis gehabt hat: „Vor mir, wo sich die Skulptur befand, zerriss der Raum. Die aufgerissene Spalte, genau in der Form vormals der Skulptur, gab plötzlich wie durch ein Spalt eines sich öffnenden Bühnenvorhangs den Blick frei auf einen dahinter befindlichen Raum - genauer: auf den Ausschnitt der Oberfläche eines monumentalen Raumkörpers. Die an ihren scharfen Hell-Dunkel-Kanten flimmernde Umrissform dieses Ausschnitts war nicht mehr die der Skulptur, sondern die des optisch vor sie versetzten Raums, in dem ich mich befand... Das vertraute Subjekt-Objekt-Kontinuum war auseinander gerissen, ich sah mich, angesichts eines in den Raum eingeklappten Gegenraums, außer mir. Zugleich merkte ich, dass ich nach dem Zurückfall in den Normalzustand diese Umklappung willentlich wieder neu erzeugen konnte. Ich weiß nicht, ob beim zweiten oder dritten Mal des Ausnahmezustands, da ergriff oder überkam mich die ‚Realie' eines mächtigen Engelwesens - dessen Haut: die Bronzefläche. Tage später ... berichtete ich Beuys von diesem Erlebnis in London... Was ich da erlebt habe, sagte er, treffe die Sache auf den Punkt; denn nichts anderes habe er mit dieser Skulptur im Sinn gehabt: diese Gegenraum-Idee. Genau das, die Erscheinung eines Engelwesens, sei die Idee dieser Skulptur gewesen!" (Johannes Stüttgen).
(ham)