Fotografie in der DDR. Lehrer und Schüler der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
Hrsg. von Susanne Knorr und Kai Uwe Schierz aus Anlass der gleichnamigen Ausstellung vom 06.12.2009 - 31.01.2010 in der Kunsthalle Erfurt mit Texten unter anderem von Uwe Kolbe, Andreas Krase und Kai Uwe Schierz
Kunsthalle Erfurt/Kerber Verlag, Bielefeld, 2009, ISBN 978-3-86678-360-7, 256 S., 40 Farb- und 162 s/w-Abbildlungen, Hardcover, gebunden, Format 27 x 21,5 cm, € 39,95/SFR 64,--
Die Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig genießt ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen hervorragenden Ruf als Ausbildungsstätte für die Buchkunst. Ab den ersten 1960er-Jahren richtet Bernhard Heisig eine Klasse für farbige Gestaltung an der HGB ein und legt damit den Grundstock für die Leipziger Malerei-Schule, aus der unter anderem Neo Rauch hervorgegangen ist. Mit den Lehrern und Professoren Wolfgang G. Schröter und Helfried Strauß und der Berufung der schon vorher einflussreichen Autorenfotografen Evelyn Richter und Arno Fischer Anfang der 1980er-Jahre hat sich an der HGB die andere Leipziger Schule, die Leipziger Schule der Fotografie etabliert. Diese andere Schule setzt auf sensibles, anteilnehmendes, mitfühlendes Sehen, das genaue Beobachten des sozialen Feldes und die Transformation des Beobachteten in wirkmächtige Bilder. Bezüge zu den sozial-dokumentarischen Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts und unter anderem zu den Fotografen Otto Steinert, Henri Cartier-Bresson und Walker Evans sind offenkundig. Der vorliegende Band dokumentiert und diskutiert den genuinen Beitrag der Leipziger Fotografen zur Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR und ihre besondere Stellung innerhalb der europäischen Fotografie des 20. Jahrhunderts. Mit am interessantesten ist der Vergleich zwischen Helfried Straußens Arbeitsansatz in seiner für ihn zentralen Fähre-Serie und den Nachtbildern seines Schülers Erasmus Schröter, die dieser als Abschlussarbeit an der HGB vorgelegt hat: Strauß hat sich Ende 1970/Anfang 1980 in einer fotografischen Langzeitdokumentation teilnehmend-beobachtend mit einer Fährfamilie in Höfgen an der Mulde auseinandergesetzt, seine Beobachtungen in im „besten Augenblick" geschossenen nicht wiederholbaren Bildern verdichtet und sie in einem Fotoessay zusammengefasst. 30 Jahre später steht die Serie für eine Form des Überlebens in der DDR, für den Rückzug ins Private. Sein Schüler Erasmus Schröter setzt sich in denselben Jahren in Infrarotaufnahmen mit nächtlich Wartenden auseinander: „Weil er als Fotograf nicht wahrgenommen wird, gelingt es ihm, bestimmte Haltungen zu fotografieren, die nichts mit den üblichen Posen der Verlegenheit, der Eitelkeit und dergleichen zu tun haben. Unverfälscht fängt er die jeweils beobachteten Situationen ein: Leute auf Rummelplätzen, auf der Hinterbühne eines Theaters, insbesondere jedoch Wartende an den Haltestellen der Leipziger Straßenbahn... Die ästhetische Perspektive der Werkgruppe ‚Nacht' weist metaphorisch auf eine verbreitete gesellschaftliche Befindlichkeit dieser Zeit hin, welche die öffentliche Selbstreflexion der DDR jedoch konsequent ausblendete: das Warten." Erasmus Schröter resümiert: „Vielleicht war diese Art zu fotografieren für mich schon damals, wenn auch noch nicht ganz bewusst, eine Form des Abschiednehmens von diesem System DDR".
Unter den vorgestellten jüngeren Fotografen der anderen Leipziger Schule sind unter anderem Florian Merkel mit seinen handkolorierten Fotografien schon um die Wendezeit durch Ausstellungen in der Galerie Wohnmaschine Berlin und Matthias Hoch durch seine Bahnhofs-, Neue Heimat- und Reichstagsserie aus den Jahren 1988 - 93 bekannt geworden.
(ham)