Karl-Henning Seemann. Die Werke der Jahre 1998 bis 2008. Kunstverlag Josef Fink. Lindenberg i. Allgäu 2009. ISBN: 978-3-89870-464-9, € 29,-
Gemeint ist im Titel die Vorgabe von Motiv und Ort, Umfeld und Finanzrahmen, die der Künstler, zumal als einer, der für den öffentlichen Raum arbeitet, zu akzeptieren hat. Die ihn dennoch nicht beeinträchtigen darf, sondern ihn erst auf die Spur der Freiheit für seine Konzeption setzt. „Es geht mir bei meiner Arbeit immer ums Ganze, um die Synthese von gegensätzlichem: Dynamik und Statik in Volumen und Raum, Rhythmus der Form in der Fern- und Nahwirkung, Freiheit der Kunst in der Bindung an eine Aufgabe - je stärker das eine, umso größer das andere. Und immer wieder geht es mir um die Frage, wie ich Bewegung, die Dimension der Zeit, in die schwerkraftgebundene Kunst der Bildhauerei umsetzen kann, ohne daß die Skulptur zur Pose erstarrt." In der Tat war dies immer sein Thema: der menschliche Körper, einzeln oder in Gruppe, dazu diese im städtischen Raum - und in Bewegung. In einem Interview, das sich in einer früheren Publikation findet (Neuere Plastiken 1984-86) antwortet er auf die Frage, ob „die figürliche, porträthafte Darstellung heute nicht fragwürdig, der Mensch als Kunstgegenstand uninteressant und langweilig geworden" sei? „Wenn man nun ein relativ akademisches und abstraktes Interesse an der verallgemeinerten Figur entwickelt hat und sieht dann z. B. in den Heilbronner Einkaufstraßen ganz normale, dickere und dünnere, geschwätzige, sich schneller oder langsamer bewegende, ruhig dastehende Menschen, kleinere und größere Aggressivitäten, die ganze Vielfalt des Lebens im Alltag, dann setzt bei mir etwas ein, was man als spontanes Erlebnis bezeichnen kann, auch wenn es geringeres Gewicht hat als das, was bei Moore in den Tubes von London zu den „Shelterdrawings" und „Reclining Figures" ... geführt hat." Er verteidigt, es war in den 80ern nach Jahren des Vorrangs der Malerei, die Bildhauerei, die Skulptur und dabei: die Konkretion. Und doch habe es ihn besonders gefreut, bemerkt er einmal, daß ihm jemand bestätigte: man sehe seinen Arbeiten immer an, daß er die Abstraktion im Hinterkopf habe.
Man muß seine Arbeiten sehen, und zwar von allen Seiten, sie um-gehen, sich dazu-stellen. Und so stehen sie auf Marktplätzen in etlichen Städten, inmitten der sich wie beschrieben bewegenden Individuen und Gruppen, dazu vor Sparkassen, bei Kirchen, auf Treppenaufgängen. „Der große räumliche Zusammenhang mit der Architektur, dem Städtebau oder der Landschaft muß aus allen Richtungen zwingend hergestellt sein, daß die plastische Arbeit aus keiner Sicht schwimmt, beliebig herumsteht oder ohne Schaden verändert werden könnte." (Zitat im Vorwort von Kurt Eichhorn „Alles und alles zugleich" zu „Karl-Henning Seeemann,. Bildhauer und Zeichner 1992-1998).
Es gibt eine erstaunliche Fülle von Werken im öffentlichen Raum aus jenen Jahren, die sich hier in immer kühneren Bewegtheiten darstellen - wie etwa der „Vierdimensionale Pegasus" am Schulzentrum Heidberg in Braunschweig (1974f.), Edelstahl - mit 400 cm Reichweite des sich wild bewegenden Tiers, das nur auf die zwei Hinerbeine gestützt ist: man meint, er wolle Falconets St. Petersburger Zaren-Reiterstandbild Konkurrenz machen. In Dresden errichtete er 1995 die „Geschichtsspirale" mit August dem Starken in Höhe von mehr als sechseinhalb m (das Wachsmodell im Atelier war über 5 m hoch) mit einem Stierkampf, gipfelnd in einer Reiterskulptur. In Bewegung können sich Menschen gegenseitig hinreißen wie im „Impuls" für die Würth-Akademie oder gar wie ein Wasserfall niederprasseln wie im Lebensbrunnen in Weinsberg, beides aus den 90erJahren. Bewegt ist über Pandoras Haupt was sie ausflattern lässt aus der Büchse. Ganz bewegtes Blattwerk ist die „Entfaltung Bochum", dreieinhalb m hoch auf zierlichem Steinsockel.
Ich lernte den Bildhauer bei der Vernissage für sein Hauptwerk des letzten Jahrzehnts kennen: dem Nordostportal der St. Georgen-Kirche in Wismar, seiner Heimatstadt. Sie war mir von Gabrielas Lichtpyramide in einem noch unvollendeten Chor dort bekannt. Beide Kunstereignisse reihten sich ein - kurz vor der Erklärung der ganzen Altstadt zum Weltkulturerbe - in die von Bundes-Denkmalschützer Kiesow geförderten Arbeiten zur Wiederherstellung und Wiederbelebung dieser größten norddeutschen Backsteingotik-Kirche. Sie war von der sich selbst überfordernden Hanse-Stadt schon im Mittelalter nicht fertiggestellt worden, und dann durch Verfall zusätzlich zerstört. Diese Tür zeigt - nun Massen-Bewegung im Relief - den Untergang des ägyptischen Heeres, gestaltet nicht ohne Erinnerung an unsre eigene Untergangsgeschichte. „Im Fortlauf der Ereignisse gerät die Geschichte im wörtlichen Sinne aus den Fugen. Die Reliefplatten scheinen die Türflügel hinabzurutschen und zerbrechen" (Kornhoff S. 17). Die sich verzweifelt Aufbäumenden scheinen den Betrachter, den Kirchgänger, zu erfassen. Damit sprengt er die Tradition der horizontal erzählenden Darstellung im Relief am Kirchenportal, „der Königsdisziplin der Bildhauerei". Man denke von den Hildesheimer Bronzetürflügeln an über Ghiberti am Florentiner Dom bis zu Gerhard Marcks in Bielefeld. „Seemann entlässt sein Personal aus der Bindung an den Reliefgrund in die Freiheit des Raums." (S. 19)
Nach Studien in beiden Teilen Berlins in den 50erJahren war Karl-Henning Seemann Dozent und Professor an der TH Braunschweig, an der FH Aachen und 1974-97 an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Er lebt in Löchgau - und vielerorts inmitten des städtischen Marktplatzes.
(Manfred Richter)