Die 7 Todsünden von Dürer bis Nauman
Publikation zu den gleichnamigen Ausstellungen vom 15.10.2010 - 20.02.2011 im Kunstmuseum Bern und im Zentrum Paul Klee
Hrsg. vom Kunstmuseum und Zentrum Paul Klee, Bern, mit Texten unter anderem von Barbara Müller, Gerhard Schulze, Claudine Metzger und einem Vorwort von Juri Steiner und Matthias Frehner
Kunstmuseum Bern/Zentrum Paul Klee Bern, Hatje Cantz Verlag Ostfildern, 2010, ISBN 978-3-7757-2647-4, 380 S., 240 vorwiegend farbige Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 29,2 x 23,2 cm, SFR 57,--
Als Protestant nimmt man verwundert zur Kenntnis, dass das Konzept der unter anderem auf den ägyptischen Eremiten Euagrios Pontikos (um 345 - 399) zurückgehenden und später Todsünden genannten Hauptversuchungen eines Christen auf dem Buch- und Ausstellungsmarkt und in Spielfilmen am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts boomt. Das radikalisierte protestantische Prinzip hat es im Übergang zum 21. Jahrhundert dagegen ausgesprochen schwer. Nach protestantischem Verständnis sind Menschen allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten. Deshalb sind sie täglich auf Gottes Vergebung angewiesen. Als wahre Todsünde, also als die Sünde, die tatsächlich zu Tod und Verdammnis führt, gilt ihnen allein das menschliche Nein zur göttlichen Vergebung. Offenkundig erscheint das im Katholizismus immer noch gelehrte Prinzip der benenn- und erkennbaren Todsünden kulturell anschlussfähiger als das ins Innere verlegte „spiritualisierte" protestantische Prinzip. Für den Theologen ist die Berner Ausstellung unter anderem deshalb spannend, weil sie das Prinzip der Todsünden mit den triebhaften Seiten des Menschen zusammendenkt, „das heisst mit jenen Veranlagungen und Instinkten, die wir als Folge des Zivilisationsprozesses mehr oder weniger stark zu kontrollieren gelernt haben, die aber an sich durchaus ambivalent sind. Daraus bezieht das Konzept der Todsünden seine Aktualität: Schon im Mittelalter dienten sie nicht einfach nur als Instrumente zur normativen Disziplinierung der christlichen Bevölkerung im Namen einer höheren (göttlichen) Moral, sondern zugleich als eine Art Leitplanken, die das Funktionieren der Gesellschaft gewährleisten sollten" (Fabienne Eggelhöfer, Claudine Metzger, Samuel Vitali). Die mit dem Werden der Moderne erfolgten Um- und Neubewertungen unter anderem von Zorn, Habgier/Geiz und Wollust und die Säkularisierung des theologischen Begriffs der Sünde erzeugen Ambivalenzen, in denen nach Auffassung der Wiener Ausstellungsmacher der Reiz des Todsündenthemas in der realisierten Moderne liegt. „Während etwa der Soziologe Gerhard Schulze die Wiederkehr des Konzepts der Sünde mit den Angriffen auf den westlichen Lebensstil von religiös-fundamentalistischer Seite in Verbindung bringt, verwenden es andere Autoren als Basis für ein Plädoyer zur Etablierung einer neuen Moral... Vor (dem Hintergrund des klassischen Kanons und der antiken Tugend- und Wertekonzepte der Stoa) stehen die Todsünden als Warnsignal für jede Form von Selbstentfremdung und fordern dazu auf, um die Integrität der eigenen Person zu ringen. Allgemein wird der Lasterbegriff sowohl in Bezug auf das Individuum als auch auf die Gesellschaft als Instrument der Selbstreflexion und Selbstevaluation benutzt. Insofern die Laster und Untugenden die Grundstrukturen der Existenz, das Verhältnis des Menschen zu den Dingen, zu anderen Personen, zu seinem Körper und zu sich selbst prägen, haben sie nichts an Aktualität eingebüßt; gewandelt haben sich nur ihre Ausformung und ihre relative Gewichtung" (Fabienne Eggelhöfer, Claudine Metzger, Samuel Vitali). Die Berner Schau zeichnet sich gegenüber bisherigen Ausstellungen dadurch aus, dass sie die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema erstmals in ihrer ganzen Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart dokumentiert. Gezeigt werden weit über 200 Arbeiten. Martin Parrs ‚Luxury'-Serie, Wolfgang Tillmans ‚Gold'-Serie und Martin Creeds 'Work Nr. 503' von 2006 berühren. Creed zeigt eine junge Frau in einem neutralen Raum. Sie hat viel zu viel gegessen und getrunken. Vielleicht hat sie den Finger in den Hals gesteckt. Sie spuckt.
(ham)