Dagmar Hoffmann (Hg.), Körperästhetiken. Filmische Inszenierung von Körperlichkeit, Bielefeld: transcript Verlag 2010, 374 S., 29,80 €
Daniel Hermsdorf, Filmbild und Körperwelt. Anthropomorphismus in Naturphilosophie, Ästhetik und Medientheorie der Moderne, Würzburg: Königshausen [&] Neumann 2011, 764 S., mit Bildanhang, 98 €
Das Medium Film ist auf Körper angewiesen, Film muss sichtbar machen, was er zeigen will. Zwei jüngst erschienene Bücher zeigen auf unterschiedliche Weise, wie Filme Körper inszenieren und wie man durch die Art dieser Inszenierung auf gesellschaftliche Entwicklungen schließen kann. Denn auch wenn Filme „Tagträume der Gesellschaft" sind, wie Siegfried Kracauer 1977 in seiner Filmtheorie schrieb und man ihnen nicht einfach naiven Abbildcharakter unterstellen kann, so sind sie doch Seismographen für die öffentliche Auseinandersetzung zu relevanten Themen der Gesellschaft. Unsere gegenwärtige westliche Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die Tatsache, dass es immer mehr ältere Menschen und weniger jüngere gibt; dies wirkt sich auch auf die Zusammensetzung des Kinopublikums und die entsprechend veränderte Nachfrage in Bezug auf das Filmangebot aus.
Das Alter ist wie das Altern der Fokus vieler neuerer Filmproduktionen, die „alternde Körper" - so ein Beitrag im Sammelband von Dagmar Hoffmann - in den Blick nehmen. Den „Lebenszyklen als filmwissenschaftlicher Analysedimension" widmen sich hier Clemens Schwender und Andrea Gschwendtner anhand des Films „There will be blood" (Paul Thomas Anderson, USA 2007).
Anhand des 8-Stufen-Modells der entwicklungspsychologischen Theorie Erik H. Eriksons in Kombination mit dem filmwissenschaftlichen Rollenmodell nach Lothar Mikos und dem szenischen Verstehen nach Alfred Lorenzers tiefenhermeneutischer Kulturanalyse können filmspezifische Deutungsmuster in den verschiedenen Altersstufen repräsentierenden Rolleninszenierungen herausgearbeitet werden. Der von den AutorInnen gewählte Film „There will be blood" eignet sich besonders für diese Herangehensweise, da das Alter - anders als in den ´Altersfilmen´ wie z.B. „Das Beste kommt zum Schluss", „Wolke 9" oder „Kirschblüten - Hanami" nicht im Zentrum der Geschichte steht. Vielmehr begleiten wir den Protagonisten durch drei Jahrzehnte und können so die Betrachtung verschiedener Lebenszyklen einbeziehen. Die offensichtliche Tatsache, dass der von Daniel Day-Lewis dargestellte Protagonist Plainview körperlich kaum altert, ist nicht einem mangelnden Kosmetikbudget geschuldet, sondern bringt zum Ausdruck, dass Plainview tatsächlich in seiner Entwicklung stehen bleibt - der von Erikson beschriebene Sprung zwischen mittlerem Erwachsenenalter (40-65) und Alter (65+) wird von ihm nicht vollzogen. Ab 40 steht die Entscheidung zwischen Generativität (dem Weitergeben der eigenen ideellen und materiellen Werte an die folgende Generation) und Stagnation an. Plainview jedoch häuft weiter Macht und Ressourcen an; seinen Ziehsohn, der als Erwachsener selbst etwas aufbauen will, weist er als Konkurrenten ab und eine andere Sohnesfigur - Eli Sunday - tötet er am Ende sogar. „I´m finished" - „Ich bin fertig" lauten die letzten Worte Plainviews im Film. Sein Handeln steht für einen Konflikt, den die AutorInnen in der Alterspyramide und der damit verbundenen mangelnden Alterversorgung begründet sehen: „Was passiert mit der Handlungsmotivation der Generativität,..., wenn die Älteren alles für sich behalten müssen, um nicht ihre eigene Existenzgrundlage für die Lebenszeit im Alter zu verlieren?" (S. 236).
Außer dem (männlich-)alternden gelangen in den verschiedenen Beiträgen in Hoffmanns Sammelband natürlich auch andere Körperbilder in den Blick: der künstliche, der übergewichtige, der soziologische und der weibliche Körper (die letzten beiden in
Robert Gutzners sehr lesenswertem Beitrag zu Clint Eastwoods „Million Dollar Baby").
Daniel Hermsdorfs Monografie „Filmbild und Körperwelt" setzt sich auf breiter Basis mit der Frage auseinander, was dem lebendigen Körper widerfährt, wenn seine Sichtbarkeit Konkurrenz durch bewegte Bilder erhält, wie dies seit Ende des 19. Jahrhunderts geschieht. Hermsdorfs Hauptinteresse gilt dabei der Frage, inwiefern das Kino und seine Erzählungen eine der ältesten kulturellen Traditionen, nämlich die Anthropomorphisierung, erneuern.
Wie die Griechen ihre Götter vermenschlicht haben, geschah dies auch mit Naturgewalten, Tieren und Maschinen. So untersucht der Autor die körperliche Darstellung von Tiermenschen, Zombies, Mumien, Geistern und maschinell manipulierten Menschen in Filmen, die zwischen 1925 und 1964 entstanden sind - vielleicht, weil die neueren Filme, und seien sie noch so computergesteuert-innovativ, inhaltlich kaum eine Fortentwicklung des Themas bieten? Neben filmischen bietet der Autor ausführliche kunstgeschichtliche, psychologische und physiologische Zugänge und zeigt die Vermenschlichung als formgebenden Gestaltungswillen in allen menschlichen Künsten, geistigen wie materiellen (wie z.B. der Architektur). Wem angesichts der Fülle und des Umfangs der Mut sinken will, sich in Hermsdorfs Werk einzulesen, dem sei der Anfang des Nachworts ab S. 619 empfohlen, in dem der Autor die zuvor inspizierten Argumentationsfelder noch einmal „im Eilschritt" durchmisst. Danach kann man sich Schritt für Schritt den inhaltlichen Füllungen der tabellarischen Durchsicht widmen.
Wer sich für das Thema der Körperbilder interessiert, dem sei aber zunächst die Lektüre des von Dagmar Hoffmann herausgegebenen Sammelbandes empfohlen. Macht dieser Lust auf mehr, kann das Gelesene mit der Lektüre der Hermsdorf-Monografie eine breite philosophische und psychologische Erweiterung erfahren. Dann wäre man für die nächsten Kinogänge bestens gerüstet, die uns mit neuesten Comicverfilmungen und Transformationen mannigfaltiger Art bekannt machen - beide Bände müssten angesichts der Filmschöpfungen des 3.Jahrtausends n.Chr. eine Fortsetzung erfahren, in der sie sich z.B. mit dem Übergang vom analogen zum digitalen, vom zwei- zum dreidimensionalen Körperbild auseinandersetzen.
(Inge Kirsner)