Werner Hofmann
Über das Phantastische in der Kunst
Hirmer Verlag München 2010, ISBN 978-3-7774-2941-0, 320 S., 219 Farbabbildungen, Leinen mit Schutzumschlag und Schuber, Buchformat 30,5 x 26,5 cm/Schuberformat 31,5 x 27,5 cm, € 98,-- (D)/SFR 137,--
Werner Hofmann zeichnet in seiner Geschichte des Phantastischen in der Kunst nicht weniger als die Vorgeschichte der Moderne nach. Für den Beginn seiner Darstellung hat sich ihm das 12. Jahrhundert angeboten, in dem er erstmals „das alternierende Nebeneinander von sachlicher Wiedergabe und phantastischer Umformung der Erfahrungsdaten glaubte ausmachen zu können. Im Zusammenwohnen der beiden Modi erblicke ich die Voraussetzung für das Entstehen von Kunstwerken, die sich der Wirklichkeit bedienen, um sie spielerisch-willkürlich zu verändern... So geht das «Phantasiestück» ... aus der korrigierenden Auseinandersetzung mit der Faktenwelt hervor, die in ihrem Bestand umgestülpt und aus den rationalen Bezugsachsen herausgehoben und verfremdet wird, so dass sie uns als unvertraute Größe gegenübertritt. Dabei entstehen neue, rätselhafte Bezugssysteme auf der Basis der verwirrenden Mischung, Fragmentierung oder Erweiterung des Gegebenen. Wesentlich ist, dass verschiedene Wirklichkeitsschichten gemischt oder konfrontiert werden. Dabei spielt die Lizenz der Multimaterialität eine entscheidende Rolle. Das Ergebnis bietet Mehrsinnigkeiten an, deren Entschlüsselung dem Betrachter nicht selten verweigert wird... Das Geschehen, auf seinen Kern reduziert, stellte sich mir als ein polyfokaler Prozess der Verfremdungen dar, die von den Kunstgriffen des Phantastischen an den eingerasteten Formeln der Wirklichkeit vorgenommen werden" (Werner Hofmann). Hofmann stellt dann in seinen „Phantasiestücken" Arbeiten zusammen, die eine Pluralität von Gegenwelten ausbreiten, wie sie vielleicht auf anderen Planeten gelingen könnte. Wesentlich ist ihm die Herausarbeitung der Strukturlinien dieser Gegenwelten. Sie formulieren Gegenpositionen zu den von Thomas von Aquin für den theologischen Kontext und von Leon Battista Alberti formulierten Schönheitsdefinitionen. Für den Thomaner sind zur Schönheit drei Dinge erforderlich: „Erstens die Unversehrtheit (integritas) oder Vollendung (perfectio)... Ferner das gebührende Maßverhältnis (proportio) oder die Übereinstimmung [der Teile] (consonantia). Und schließlich die Klarheit (claritas)". Auch Alberti definiert die Schönheit auf der Basis des Ebenmaßes. „Die Schönheit ist eine Art Übereinstimmung und ein Zusammenklang der Teile zu einem Ganzen, das nach einer bestimmten Zahl (numerus), einer bestimmten Beziehung (finitio) und Anordnung (collocatio) ausgeführt wurde, wie es das Ebenmaß, d.h. das vollkommenste und oberste Naturgesetz fordert" (Leon Battista Alberti). „Alle diese Rahmenbedingungen schließen die Phantastik aus. Umgekehrt formuliert: im Phantastischen erwachsen ihnen Gegenpositionen, die sie in Frage stellen: Abweichungen, Tabubrüche, Ausschweifungen und Regelverstöße, die allesamt einen neuen Kontinent mit mehreren Gegenwelten bilden" (Werner Hofmann). Hofmann findet den gegensätzlichen Zugang zu den Erfahrungen bereits in den Illuminationen der ‚Moralia in Job' von Gregor dem Großen in einer französischen Handschrift aus dem 12. Jahrhundert in der Bibliothek von Dijon abgebildet. Zwei Initialen zeigen Mönche beim Holzhacken. Zwei Mönche sind dabei, einen senkrechten Stamm zu fällen. Zwei andere bearbeiten einen liegenden Stamm. Aus der ersten Szene ergibt sich die Initiale J, die sich im Text als Einleitung zu ‚ntellectus' ergänzt. In der zweiten Szene passen sich die Mönche beim Arbeiten der Rundung des Q an. Hofmann schlägt nun vor, die Initiale I als ästhetische Haltung der Nachahmung der Wirklichkeit und die Initiale Q als deren spielerische Verwandlung zu lesen. Entscheidend ist für ihn die Möglichkeit der Wahl zwischen beiden Zugriffen, weil sie Freiräume eröffnet. Das Prinzip wird in der Einleitung unter anderem an E.T.A. Hoffmanns ‚Fantasie-Stücken in Callots Manier' von 1813, Martin Schongauers Kupferstich ‚Versuchung des hl. Antonius' von 1470/75 und Hieronymus Boschs ‚Die sieben Todsünden' von 1475/80 und seinem ‚Garten der Lüste' von 1503 ausgefaltet. Mit dem Lebenswerk von Hieronymus Bosch sind für Hofmann alle Spielarten des Phantastischen präsent, „die in den kommenden Jahrhunderten die künstlerische Einbildungskraft beschäftigen: Verfremdungen der Dingwelt, Höllenfahrten, Hexentreiben und Satanskult, hedonistische Gegenparadiese und verkehrte Welten. Diese Erkundungen lassen sich unter der Doppelsignatur von Versuchung und Versuch zusammenfassen. Das heißt, die Versuchungen, denen die Menschen - Täter und Opfer - in diesen Phantasiestücken ausgesetzt sind, sind zugleich Elemente eines artistischen Versuchslabors, das neue Sprachmodi ausfindig machen soll. Diese Ab- und Ausschweifungen sind nur scheinbar von spielerischer Beliebigkeit motiviert. Die artistische Subversion zielt in Bezugsfelder, die dem Menschen seine anarchischen Freiräume und dem Künstler seine gefährdete Randposition bewusst machen" (Werner Hofmann). Im zweiten Kapitel seiner Untersuchung findet Hofmann die diesseitige Welt unter anderem bei Leonardo, Pieter Bruegel, Blake und Goya verrätselt. Im dritten Kapitel geht er Gegenwelten unter anderem bei Alfred Kubin, René Magritte und Paul Klee nach. Das Schlusskapitel widmet sich Sigmar Polkes ‚Schleifenbild Velocitas/Firmitudo' von 1986. In dieser Malerei hat Polke acht von Albrecht Dürer entlehnte lineare kalligraphische Schleifen oder Schnörkel über einen amorphen alchimistischen Farbenschleier und Farbgrund gelegt. „Wir sind Zeugen einer alchimistischen Farbenküche und der abstrakten Signatur einer Handschrift, die ohne Inhalt auskommt. Im Gegensatz zu den Schnörkeln hat das Diffuse weder Anfang noch Ende: seine chaotische materielle Konsistenz kontrastiert mit den gerichteten Energien der Linien, die einen Gestaltungswillen verraten. In diesen Gegensätzen verbirgt sich eine Konvergenz, wie sie schon Kandinsky verspürte, als er zwischen Materie und Geist keine prinzipiellen Unterscheide, sondern «Abstufungen» feststellte... Darin sind die beiden Komponenten enthalten, die uns halfen, das Phantastische in den Geschichtsverläufen eines Jahrtausends als künstlerisches Phänomen aufzuspüren: die der Nachahmung der Materie verpflichtete «I»-Linie und die «Q»-Linie als Erfindung der Phantasie" (Werner Hofmann).
(ham)