Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Städtischen Galerie Ravensburg und der Columbus Art Foundation, vom 27.06. 2009 – 04.10. 2009. Hg. von Nicole Fritz und der Städtischen Galerie Ravensburg. Mit einem Text von Nicole Fritz. Snoeck Verlagsgesellschaft, Köln, 2009, ISBN 978-3-940953-13-1, 122 Seiten, ca. 130 Abb., Broschur, Format 24 x 19 cm, € 29,80
Volkskultur und Volkskunst, insbesondere die religiöse Volkskunst, entfalten ihren ganz eigenen Reiz. Wer einmal den Rundgang mit Votivbildern an der Gnadenkapelle in Altötting oder in einer anderen süddeutschen Wallfahrtskirche gesehen hat, wird sich einem quasi-religiösen Gefühl des solidarischen Mitleidens kaum entziehen können. Diese über Jahrhunderte gewachsenen Bildwände zeigen ein ganz unmittelbares Verhältnis zur Religion. Viele Dinge waren damals heilig und auch der normale Bürger, Bauer oder Handwerker hatte einen direkten Draht zum Jenseits.
Broschen aus dem Haar von Toten, Amulette, Schutzsymbole, Marien- und Heiligenbildchen – gerade die magisch angehauchten Artefakte lassen die Fantasie des säkularisierten und von der totalen Aufklärung doch arg gelangweilten Jetztzeitlers aufblühen. Nur wenig von der alten Volkskultur ist uns geblieben, die kitschigen Devotionalien an Wallfahrtsorten treiben dem Betrachter allenfalls Tränen des Zorns in die Augen, traditionelles Brauchtum verkommt zur Sauforgie oder zum Gaudium für Touristen.
Was also hat sich in die Gegenwart retten können? Gibt es Künstler, die mit Motiven aus der Volkskunst weiterhin arbeiten? Gibt es tatsächlich eine erneute Hinwendung zu überlieferten Bräuchen, die sich in Jodelkursen, Schamanengetrommel, Dirndlexzessen auf dem Oktoberfest und letztlich auch in der Kunst zeigt? Oder bedienen sich die Maler und Bildhauer einfach aus einem verfügbaren Bildfundus, der vermeintlich leicht zu entschlüsseln ist und optisch etwas hergibt? Erste Antworten liefert der Katalog zur Ausstellung „Säen und Jäten“, der dreiundzwanzig Künstler präsentiert, die sich mit Aspekten der Volkskultur auseinandersetzten.
Hier kombinieren die Brüder Gert [&] Uwe Tobias in großen Holzschnitten Motive der Volkskunst mit Bildelementen der russischen Avantgarde, Michael Mundig kopiert altmeisterlich kitschige Touristenpostkarten auf Kupferplatten und Mariella Moser fertigt Masken aus industriellen Verpackungen, Luftpolsterfolien und Kartonagen. Hier erklimmt Gabriela Oberkofler die Stuttgarter Hügelwelt, um vom Gipfel kräftig zu jodeln. Monika Nuber zeigt ihren Animationsfilm Maria durch einen Dornwald ging (KURSIV), der amüsant und beunruhigend im Comicstil ihre volksfromme Kindheit in Oberschwaben bebildert und Anselm Reyle zeigt als Objet trouvé einen neonfarben lackierten Pflug.
Die Kleinplastiken der Ausstellungssenioren Joseph Beuys und Franz Eggenschwiler wirken zwischen der jungen Kunst allerdings deplatziert. Hier sollte wohl ein kunsthistorischer Bogen zum letzten wirklichen Schamanen der bundesdeutschen Kunstszene geschlagen werden. Leider endet der Bogen im Nirgendwo, denn ernst gemeinte Spiritualität findet sich bei keinem unserer Zeitgenossen. Die Künstler ironisieren ohne wirklichen Bezug zu den Quellen der vergangenen Kultur, die nicht mehr die eigene sein kann. Allenfalls lässt sich ein melancholisches Gefühl der Heimatlosigkeit konstatieren. Keines der ausgestellten Werke kann und will sich mit der beuysschen Spiritualität messen. Sein Multiple „Wirtschaftswert Brusttee“ hat so allenfalls die Funktion eines dreidimensionalen Ausrufezeichens.
Michael Reuter