Berlin Verlag, 20116, 428 S., Leinen gebunden mit zwei Lesebändchen und Schutzumschlag, Dünndruckpapier, Format 22 x 14 cm, € 32,--
Henning Ritter, 1943 geboren, war von 1985 - 2008 im Feuilleton der Frankfurt Allgemeinen Zeitung für die Rubrik Geisteswissenschaften verantwortlich. Neben dem täglichen Lese- und Schreibpensum hat für ihn „die unreglementierte Lektüre eine wachsende Anziehungskraft" entfaltet. „Ihre Freiheit und Spontaneität verlockten zu immer neuen Ausflügen zu Lieblingsautoren und in Lieblingsepochen" (Henning Ritter). Dabei sind neben zahlreichen Publikationen und der Herausgabe unter anderem von Jean-Jacques Rousseaus Schriften und Montesquieus ‚Meine Gedanken' ein halbes Hundert Notizhefte entstanden, in die Ritter seine Einfälle und Reflexionen notiert hat. Der vorliegende Band enthält eine Auswahl aus den Jahren 1990 - 2009. Notizen sind rasch hingeworfene Gedanken, die man im besten Fall noch entziffern kann, wenn man sie braucht. Sie führen ein Eigenleben und bilden die Lieblingsautoren, Lieblingsepochen und Vorlieben des Autors ab. Montesquieu spielt für Ritter eine zentrale Rolle, aber auch Nietzsche und der eigensinnige Umgang mit der Bibel und der christlichen Tradition. So notiert Ritter unter anderem: „Nietzsches ‚Gott ist tot' ist ein protestantischer Satz. Er kommt aus der Vertiefung des Karfreitagserlebnisses: Christus wird nicht auferstehen. Katholisch ist der Totenschein, den der Großinquisitor ausstellt: Christus hat keine Macht, er ist an der Macht gescheitert, weil er die Macht leugnete. Er war der Verführung der göttlichen Ohnmacht erlegen". Zum Glauben heißt es: „Der Glaube stellt viel mehr Fragen als die Vernunft. Dies drängt sich angesichts der frühchristlichen Diskussion über den Leib Christi auf. Endlose Fragen von der Art, wer denn drei Tage lang im Grabe gelegen habe, wurden wohl schon von den Jüngern erörtert. Der Glaube - oder jener Zwischenzustand zwischen dem Glauben und dem Nichtglauben - scheint hier eine grenzenlose Neugierde geweckt zu haben, die erst nachträglich und zu Unrecht als Zweifel aufgefasst wurde. Tatsächlich will der Glaube dies alles wissen, denn für ihn kommt es auf jede Einzelheit an. Er möchte sich durch eine Vielzahl von unüberwindlichen Hindernissen herausfordern lassen". Und zur Aufklärung: „Die Aufklärung nach 1750 war in erster Linie Religionskritik, sie liebte die Blasphemie. Aber der Atheismus lag ihr fern. Ihr Verhältnis zum Christentum war nicht Gleichgültigkeit. Vielmehr wollte sie das, was das Christentum versucht hatte, noch einmal beginnen. Die Aufklärung war die letzte imitatio Christi: Sie wollte es besser machen. Die Intensität dieses Wunsches, das Christentum auszustechen und zu übertreffen, kam dem Glauben selbst gleich". Selbstverständlich findet man auch zahlreiche Notizen zur Kultur und Kunst. So vertritt Ritter im Anschluss an Schopenhauer folgende Einsicht: „Eine Verhaltenslehre gegenüber dem Kunstwerk tritt bei Schopenhauer das Erbe der klassischen Ästhetik an: ‚Mit einem Kunstwerk muss man sich verhalten wie mit einem großen Herrn nämlich sich davor hinstellen und warten, dass es einem etwas sage'. Die großen Herren sterben aus, und die Bilder schweigen" (Henning Ritter). Ritters Notizhefte sind zu einem bis an den Rand gefüllten Gedankenspeicher geworden. Seine Einfälle helfen jedem Selbstdenker, die eigenen Lieblingsgedanken ebenso gegen den Strich zu bürsten wie die Größen der europäischen Geistesgeschichte. Ritters ‚Notizhefte' gehören auf jeden Nachttisch.
(ham)