Fallstudien zu Markus Lüpertz, Bernhard Heisig, Martin Kippenberger und Jonathan Meese, Zürich 2010, Zentralbibliothek Zürich www.zb.unizh.ch: opac.nebis.ch/ediss/20111054.pdf, 348 S.
Angelika Schuster fragt in ihrer im Herbst 2010 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich als Doktorarbeit angenommenen Abhandlung, welchen Stellenwert die Kreuzigung Christi in der autonomen figurativen Malerei in Deutschland nach 1945 trotz des abnehmenden gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Einflusses der Kirchen hat. Die Arbeit nähert sich in drei Schritten der Bedeutung der Kreuzigung Christi. Der erste Teil versucht, einen kurzen historischen Überblick über das Kreuzigungsmotiv in der Malerei von seinen Anfängen bis 1945. Im Vordergrund steht nicht die theologische Durchdringung der Heilsbedeutung des Gekreuzigten, sondern die Analyse ausgewählter Bilder und ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung. Im zweiten Teil werden die Kreuzigungsdarstellungen in der Kunst in Ost- und Westdeutschland getrennt nachgezeichnet. Im dritten Teil und im Zentrum der Arbeit stehen die exemplarischen Analysen ausgewählter Werke von Markus Lüpertz, Bernhard Heisig, Martin Kippenberger und Jonathan Meese. Von Lüpertz sind 17 gemalte Kreuzigungen aus dem Zeitraum der 1960er bis 1990er Jahre bekannt. Nach der Analyse von Schuster steht bei Lüpertz die Auseinandersetzung mit der Kreuzigung als Kulturgut im Vordergrund. Bernhard Heisig hat zwischen den 1960er und 1980er Jahren 28 Kreuzigungen gemalt. In Heisigs Werk chiffrieren die Kreuzigungen unter anderem sein persönliches Erleben als Soldat im Zweiten Weltkrieg und seine Einschätzung der Rolle der Religion. Die Kreuzigungsdarstellungen werden zudem auch zum Anti-Kriegssymbol und die Christusfigur zu einer „Widerstandsfigur gegen den Missbrauch der Religion, die Manipulation des Menschen durch die Medien und gegen soziale Missstände" (Angelika Schuster). Martin Kippenberger ist nie aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Nach dem Urteil von Schuster stellen seine Kunstwerke mit Kreuzigungsmotiven „einen bedeutenden Beitrag zur Fortführung christlicher Symbolik dar... Er bleibt in seinen Grundwerten durchaus konservativ" (Angelika Schuster). Nach der Durchsicht von Schuster greift Kippenberger das Kreuzigungsmotiv vermutlich nur in den Jahren 1988 - 1995 in 14 Gemälden, 7 Zeichnungen, 2 Fotografien, einem Plakat und zwei Skulpturenserien mit mehreren Variationen auf. „Der Gekreuzigte hat entweder Ähnlichkeiten zu Christus ... oder der Gekreuzigte ist ein Mann, eine Frau, ein Baby oder ein Frosch. Das Kruzifix kommt häufig in Verbindung mit dem Ei vor. Dies kann ein rohes Ei sein oder ein Spiegelei. Wie bei der Verbindung mit den Bierkrügen geht es primär darum, den Gekreuzigten von der religiösen in die reale Welt zu transferieren. Diese Profanierung und Banalisierung dient auch der Provokation des Betrachters. Aber gerade durch diese Erniedrigung, Verfremdung und den Witz sucht und fordert Kippenberger eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der christlichen Thematik heraus. Das hindert ihn nicht darin, das Motiv von seiner christlichen Bedeutung - der Erlösung der Menschen durch den Kreuzestod Christi - zu lösen und zu säkularisieren. Die Darstellungen des Gekreuzigten sind meist Selbstdarstellungen des Künstlers und stehen damit in enger Verbindung zur Reihe der Selbstbildnisse. Sie entstehen alle um das Jahr 1990. In diesem Jahr teilen die Ärzte dem Künstler mit, wie es um seinen desolaten Gesundheitszustand steht. Die Beschäftigung mit der Kreuzigung scheint folglich durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod ausgelöst zu werden" (Angelika Schuster).
Jonathan Meese schließlich hat sich ab 2000 in 33 Malereien mit dem Motiv der Kreuzigung auseinandergesetzt. Neben erigierten Penissen, dem eisernen Kreuz, dem Totenkopf und dem Hakenkreuz zählen das lateinische Kreuz und die Kreuzigung zu den Leitmotiven des Künstlers. In den von Schuster analysierten Meese-Gemälden ‚Die Staatsversuchung der Gebenedeiten im Erzland' 2003, ‚Kampf um Pluto', 2006, und ‚Erzballettschule [lt][lt]Saloon Fitty[gt][gt] (Die gralsfrischen Leibesübungen der totalen Metabolischen, wie Schlüpferrevolution [lt][lt]Kein-Ich[gt][gt]', 2009 löst sich Meese nach Schuster von den tradierten Bedeutungen. „Der gekreuzigte Christus wird durch... Fantasiewesen, häufig durch Ungeheuer ersetzt. Die Abbildungen werden dadurch noch grausamer. Gewalt und Foltertod sind die vorherrschenden Inhalte. Diese werden assoziativ mit politischen, historischen aber auch mit biologischen Themen verknüpft. Auf dem Triptychon ‚Die Staatsversuchung der Gebenedeiten im Erzland' ... führt dies zur Auseinandersetzung mit der Funktion des Staates. Die Persönlichkeit Napoleons steht auf dem Bild ‚Kampf um Pluto' ... im Vordergrund. Die ... Themen der Fortpflanzung und Fruchtbarkeit werden in dem Bild ‚Erzballettschule [lt][lt]Salon Fitty[gt][gt]'... aufgegriffen" (Angelika Schuster). Nach dem Urteil von Schuster hat sich Meeses Einstellung zu den Religionen und zum Christentum zwischen 2007 und Dezember 2008 deutlich gewandelt. 2007 bezeichnet er sich als „ultrareligiös" und hält Religion „für notwenig und gut, nicht im klassischen Sinn, sondern eher als Gefühl von Demut, Respekt und Liebe vor dem, was du kannst oder was du nicht kannst. Jeder hat sein Kreuz zu tragen. Jede Religion ist wunderbar." (Jonathan Meese) Im Dezember 2008 ist er dagegen der Meinung, dass Religionen reine Projektionen, im Sinne von Marx Opium des Volkes und Gebilde der Vergangenheit sind. Wenn man der Interpretation von Schuster folgt, ist die Kunst für Meese zur übergeordneten Dimension geworden. Sie übernimmt für ihn „die Funktion einer Ersatzreligion" (Angelika Schuster). Im Ergebnis belegt die Abhandlung, dass die Kreuzigung als zentrales religiöses Motiv zwar im multireligiösen Umfeld ihr Alleinstellungsmerkmal verloren hat, aber ein wichtiges Motiv in der Malerei in Deutschland geblieben ist und auch in Zukunft bleiben wird.
Die kunstwissenschaftliche Arbeit wäre für den Theologen noch spannender, wenn die Autorin ihre allzu schematische Gegenüberstellung von kirchlich-dogmatischer Heilsbedeutung der Kreuzigung Jesu und ihrer multiperspektivischen Deutung in den behandelten Materialien aufgelöst und auch den theologischen Teil in die Vielschichtigkeit der gegenwärtigen Diskurse überführt hätte. Vergleichbares gilt für ihre unterkomplex gebrauchte Metapher des abnehmenden gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Einflusses der Kirchen, ihren Religionsdiskurs und ihren einsinnigen Umgang mit der Deutekategorie Säkularisierung.
(ham)