Hrsg. von Wolfgang Henze, Ingeborg Henze-Ketterer, Gabriele Lindinger und Karlheinz Schmid mit Texten unter anderem von Jörg Restorff, Dorothee Baer-Bogenschütz und Matthias Weiß Lindinger + Schmid, Regensburg, 2010, ISBN 1618-4106, 320 S., zahlreiche s/w- und Farbabbildungen, Broschur, Format 34 x 24 cm, € 50,--/SFR 79,--
Die zehnte Ausgabe der Zeitschrift, die Bilanz zieht, ist klug zwischen die Themen Tiere, Schönheit, Krieg, Macht und Mode eingespannt und zeigt, dass die Herausgeber der Mode im Kontext von Kunst eine gewachsene Bedeutung zumessen. Kunst ist für sie nicht mehr nur das, was in Museen, Kunstvereinen und Privatsammlungen als Kunst präsentiert wird, sondern auch das, was man auf dem Leib tragen könnte. Konsequenterweise darf dann auch das doppelseitige Foto von Karl Lagerfelds Chanel-Präsentation im Juli 2010 im Grand Palais in Paris den Band eröffnen: Der deutsche Designer-Zar marschiert unter einer acht Tonnen schweren Löwenskulptur über den kreisrunden Laufsteg. Die Fotoapparate klicken. Das Publikum applaudiert. Man feiert sich selbst und dass man dabei sein kann. Von anderem Kaliber ist die am Ende des ersten Drittel des Bandes dokumentierte Flatz-Performance „schuldig - nicht schuldig", in der der in München lebende Künstler wie ein Guantanamo-Häftling mit einem Sack über dem Kopf und in Handschellen in den Kunstraum Innsbruck geführt und zuerst kahl rasiert wird. Dann schubst man ihn rüde an den Wänden entlang. „Sein Bereich, der 70 Zentimeter umfasst, ist per schwarzem Gaffer-Tape demarkiert. In jeder der vier Ecken hängt eine Stahlplatte: das minimalistische Setting der Performance .... ‚Schuldig', ruft Flatz. Das Dröhnen einer Stahlplatte folgt. Der Mann summt monoton im Gehen, dann ein mit fester Stimme deklamiertes „Nicht schuldig", gefolgt vom Aufprall der Stirn auf das kalte Metall. Er geht weiter, den Kopf in devoter Haltung leicht vornüber gebeugt, und fährt unbeirrt fort mit seiner... selbstverletzenden Handlung" (Matthias Weiß).
Das geht solange, bis gegen 22.30 Uhr der letzte Zuschauer den Raum verlassen und Flatz wohl um die 1200 Kopfstöße hinter sich gebracht hat. An seiner Stirne klafft eine blutende Wunde. „Umklammert von der Erbsünde" titelt der Autor. Und: „Der christlichen Umklammerung entkommt niemand" (Matthias Weiß). Im Kunstjahr folgen die üblichen Berichte über die Kunstereignisse des Jahres, Versteigerungen, Sammler, die das Jahr über aufgefallen sind und Kuratoren, die neue Stellen eingenommen haben und anderes mehr; aber das interessiert nach der Begegnung mit Flatz nicht mehr wirklich. Wer die 320 Seiten des Bandes hinter sich gebracht hat, hat ein sicheres Gefühl dafür bekommen, was es heißen könnte, dass er sich zwischen dem performativen Kunstbegriff von Flatz und dem offenen der Herausgeber entscheiden muss.
(ham)