Begleitbuch zu den Ausstellungen im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt vom 04.12.2010 - 27.02.2011 und in der Kunsthalle Tübingen vom 12.03 - 22.05.2011
Hrsg. von Wolfgang Voigt und Roland May mit Texten unter anderem von Uwe Bresan, Hartmut Frank, Matthias Roser und den Herausgebern
Deutsches Architekturmuseum Frankfurt/Stiftung Kunsthalle Tübingen/Wasmuth Verlag Tübingen, 2010, ISBN 978-3-8030-0729-2, 320 S., ca. 480 zum Teil farbige Abbildungen, Hardcover gebunden, Format 24,5 x 30,6 cm, € 49,80
„Stuttgart 21" hat den zwischen 1911 und 1927 geplanten und gebauten Stuttgarter Bahnhof als Hauptwerk des einflussreichen Architekten und Hauptvertreter der Stuttgarter Schule Paul Bonatz in den Blickpunkt gerückt. Der prämierte Wettbewerbsentwurf von 1911 wurde vor der Realisierung tiefgreifend überarbeitet und hat unter anderem zur starken Vereinfachung der Formensprache, kubischen Baumassen, zur Umplazierung des Bahnhofsturms an die heutige Stelle und zum präzisen Anschluss des Kopfbahnhofs an die Stuttgarter Innenstadt und den benachbarten Schlossgarten geführt. Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg beschrieb den Bahnhof 1929 als „Tempel eines unbekannten Kultes", in dem die Liturgie vom Fahrplan bestimmt wird und in dem eine geradezu religiöse Einstellung zur Ordnung des Fahrplans, zur Bequemlichkeit der Reisenden und zur Verteilung der aus- und eingehenden Menschenmassen herrscht. Domenikus Böhm scheint bei seinen Bahnreisen über Stuttgart an die Kunstgewerbeschule in Offenbach Vergleichbares empfunden zu haben, als er sich vom „Westwerk" der großen und kleinen Schalterhalle des Bonatzbaus für kirchliche Variationen unter anderem an der Christus König-Kirche in Leverkusen (1928) inspirieren ließ. Aber Paul Bonatz ist weit mehr als der Erbauer des Stuttgarter Bahnhofs. Er hat nach seinem ersten realisierten Bau, dem Justiz- und Arrestgebäude in Mainz (1903/10) unter anderem Schulen, Rathäuser, Wohnhäuser, Krankenhäuser, die Sektkellerei Henkell in Wiesbaden-Bieberich, Schleusen und Staustufen am Neckar, das Kunstmuseum Basel (1931/36), die RAB-Brückenfolge für den Albabstieg am Drackensteiner Hang (1934/37), das Düsseldorfer Opernhaus (1953/56) und den Wiederaufbau des Kunstgebäudes am Schlossplatz Stuttgart (1952/61) verantwortet und gebaut. Dazu kamen Lehraufträge an der TU in Stuttgart. Sein Verhältnis zum Nationalsozialismus blieb distanziert-gespalten. Aber er wollte wie alle Architekten bauen. Deshalb hat er sich unter Speer auch an der Entwurfsplanung für die Riesenkuppel für den neuen Bahnhof in München beteiligt. Seine schon 1935 erwogene Option Exil wird 1944 nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland wieder aktuell: Er bleibt über das Kriegsende hinaus in Ankara und nimmt dort Lehr- und Bauaufträge an. Der Band setzt Maßstäbe. Sein kommentiertes Werkverzeichnis macht ihn für jede weitere Beschäftigung mit Paul Bonatz unverzichtbar.
(ham)