Interpretationen und Einlassungen seit 1969
Ritter Verlag, Klagenfurt, Graz und Wien, 2009, ISBN 978-3-85415-419-8, 240 S., zahlreiche s/w- und Farbabbildungen, Klappenbroschur, Format 24 x 18,5 cm, € 29,-
Peter Gorsen liest die bild- und gattungsübergreifenden, multimedialen und mehrdeutigen Ansätze der unter dem Begriff „Wiener Aktionismus“ versammelten Künstlerinnen und Künstler als „die radikalste Fortsetzung und vielleicht sogar Vollendung von Nietzsches Kritik an den ‚Verächtern des Leibes’, an der Fleischverteufelung des Christentums und der ‚vorherrschend gewordenen Vernünftigkeit’, die die ‚Logik und Logisierung der Welt’ … in den modernen Wissenschaftsdisziplinen privilegiert“ (Peter Gorsen). In dieser „am Leitfaden des Leibes“ (Friedrich Nietzsche) orientierten Lektüre erscheint die kurze Indienstnahme des Wiener Aktionismus für die studentische Veranstaltung „kunst und revolution“ des SÖS 1968 in Wien randständig. Im Zentrum steht dagegen der revolutionäre Subjektivismus, der „im Namen des Lebens und ungebrochener triebanarchistischer Vitalität gegen alle bürgerlichen, religiös sittlichen Ordnungen und die bankrotten Werte der Humanitätskultur aufbegehrte“ (Peter Gorsen). Weiter die Umkehrung der Prioritäten zwischen Geist und Leib, zwischen denkendem und handelndem Ich und die radikalästhetische Moderne der performativen, nachauratischen Kunst.
Der lesenswerte Band versammelt bisher nur verstreut zugängliche Aufsätze des Kunst- und Mentalitätshistorikers Peter Gorsen aus den Jahren 1969 bis 2007 unter anderem zu Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler und zum Wiener Aktionismus. Er macht darüber hinaus Originaldokumente wie Otto Muehls Brief an Gorsen vom 11.12.1966 und ein Blatt aus der Partitur zu Günter Brus Aktion „Zerreißprobe“ von 1970 zugänglich. Gorsens lexikografische Annäherung an den Begriff und die Theorie des Wiener Aktionismus von 1996 kommt zu folgendem Zwischenfazit: „Es tut dem originellen künstlerischen Profil des Wiener Aktionismus keinen Abbruch, wenn seine Rebellion gegen die ästhetische Immanenz, sein sensualistischer Materialismus und Hedonismus am ‚Leitfaden des Leibes’ (Nietzsche) so widerspruchsvoll, vieldeutig und konfliktreich zur Sprache kommt, wie es die Dokumente nahe legen. Zu den härtesten Brocken einer schlüssigen Interpretation und Theorie des Wiener Aktionismus gehören das Katharsiskonzept, das Verhältnis der Abfuhr der Affekte zum Formprinzip, die ‚wilde Psychoanalyse’ der Aktionskünstler und –theoretiker, der therapeutische Sinn der Selbstbewältigung und seine Aneignung durch die Aktionsteilnehmer und Modelle, kurzum das brüchige Partizipationsmodell. Widerspruchsvoll erscheint, das triebanarchische, intuitionistische, lebensphilosophische Kreativitätstheorem … Vielleicht erklärt sich die starke atavistische Wirkung und Nachwirkung des Wiener Aktionismus gerade in den angesprochenen Widersprüchen und Ambivalenzen seiner Grenzüberschreitung, die Ethik durch Ästhetik ausgemerzt, die Entgrenzung der Kunst zum Thema der Kunst erhoben hat“ (Peter Gorsen).
(ham)