Modelle und Ansichten 1980 - 2010 Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 15.07. - 01.11.2010 in der Kunst- und Ausstellungshalle der BRD, Bonn mit einem Vorwort von Robert Fleck und einem Text von Rainald Schumacher
Kunst- und Ausstellungshalle der BRD,Bonn/SnoeckVerlagsgesellschaft Köln, 2010, ISBN 978-3-940953-54-4, 272 S., ca. 700 vielfach erstmals reproduzierte Farbabbildungen, Fadenheftung, Hardcover gebunden mit Schutzumschlag, Format 30,5 x 25 cm, € 68
In Münster kann man in der Innenstadt auf Thomas Schüttes 1987 realisierte ‚Kirschensäule’ mit dem Paar leuchtend roter Kirschen an der Spitze treffen und sich an die eigene Kindheit erinnern: Viele von uns haben sich als Kinder mit Doppelkirschen über den Ohren geschmückt, um sie dann später, wenn es keine anderen mehr gab, aufzuessen. 20 Jahre später hat Schütte in der unmittelbaren Nachbarschaft seiner ‚Kirschensäule’ sein ‚Modell für ein Museum’, 2007, Stahl, Glas, Plexiglas, 450 x 600 x 500 cm realisiert. Als Betrachter war man im ersten Moment irritiert, weil man den pyramidalen Aufbau als eine Art Haus oder Schutzraum für eine in eine Brunnenanlage integrierte Kleinskulptur halten konnte. Das Modell erschließt sich, wenn man beim Studium der dem Katalog beigegebenen Vorzeichnungen realisiert, dass der Aufbau über dem Brunnen für einen Hochofen steht. Für Rainald Schumacher ist das ‚Modell für ein Museum’ ein Paradebeispiel für die Kontinuität in den Motiven und Themen von Schütte. Die erste Idee für dieses Modell reicht in das Jahr 1982 zurück. „Die nach oben aufragende dreieckige Struktur, die auf zwei flachen, rechteckigen Baukörpern lagert und ihren Abschluss in einem nach oben laufenden Schacht oder Kamin hat, wurde in verschiedensten Modellen, Skizzen und Zeichnungen über die Jahre variiert. 2007 wurde das ‚Modell für ein Museum’ dann als komplexe Brunnenanlage anlässlich der Skulptur Projekte Münster in großem Maßstab ausgeführt. Das ‚Modell für ein Museum’ ist ein skeptisches Werk, das grundlegende Zweifel des Künstlers an unserer Kultur zum Ausdruck bringt – ist dieses Museum doch nichts anderes als ein riesiger Verbrennungsofen, in das die Werke der Kunst eingeliefert und dann vernichtet werden sollen“ (Rainald Schumacher). Nachdenklichkeit und vielleicht auch Skepsis sprechen auch aus der seit 1991 in Vorzeichnungen und Modellen vorbereiteten und ab 1992 in Varianten in Keramik realisierten Werkgruppe der ‚Fremden’. 1992 sind sie auf dem klassizistischen Eingangsportal des Kaufhauses Lefters in Kassel und 1995 in Lübeck installiert worden. Sie erinnern entfernt an Oskar Schlemmers triadisches Ballett. Keine dieser Figuren schaut geradeaus. Alle Augen sind geschlossen. Die gesenkten Köpfe signalisierten Demut, vielleicht auch Scham. Man ist zwar im Land, aber noch nicht wirklich angekommen. Den ‚One Man Houses’, 2003 – 2009 steht der ‚Tower of Talkers“, 2003 – 2006 gegenüber, der entfernt an Georg Karl Pfahlers Palaverhäuser erinnert. Weiter das ‚Hotel for the Birds’, das nach zahlreichen Vorläufermodellen 2007 auf dem Trafalgar Square in London realisiert worden ist.
Den voluminösen und leiblichen Genüssen offensichtlich nicht abgeneigten ‚Geistern’ kontrastiert der technoide ‚Engel’ mit seinen messerscharfen Flügeln (2010, Edelstahl, 316 x 300 x 150 cm) den ‚Schutzräumen’ (1986 – 1996) das ‚Ferienhaus für Terroristen’ (2009). Die Kirschen von Münster werden durch Melonen, Zitronen und Kartoffeln ergänzt. Robert Fleck resümiert, dass der Bildhauer Thomas Schütte über 30 Jahre hinweg ein skulpturales Repertoire aufgebaut hat, „dessen Vielfalt sowohl in der Typologie als auch in der Formensprache zum Ausdruck kommt. Er vermag es, unterschiedlichste Momente, Kräfte, Emotionen, psychische Erfahrungen und Raumbegriffe darzustellen und erlebbar zu machen. Erstaunlicherweise gelingt es ihm immer wieder, der Gefahr der gewichtigen Monumentalität zu entkommen und scheinbar Widersprüchliches in Balance zu bringen. Er beherrscht souverän das Spiel zwischen großer Dimension und Leichtigkeit, zwischen geschlossener und offener Form, zwischen klarer formaler Setzung und fragiler Offenheit… Der architekturbezogene Teil seiner Skulpturen stellt den ‚objektiven’ Gegenpart zum figurativen, auf lebendige Gestalten bezogenen Teil seines Werks dar. In der großen ‚Comedie sculpturale’ der Existenz im postmodernen Zeitalter, die Thomas Schütte erarbeitet hat, nehmen die bautenähnlichen Skulpturen den Platz eines skeptisch-nachdenklichen Ideenlabors für die Möglichkeiten des anorganischen Bereichs im zeitgenössischen Leben ein. Ihnen gegenüber stehen figurale Skulpturen wie zuletzt ‚Engel’ und ‚Vater Staat’, die dem organischen Bereich zugeordnet werden können“ (Robert Fleck). Wer das Werk von Thomas Schütte in der Tiefe verstehen will, wird zu dem vorbildlich erarbeiteten Übersichtswerk greifen.
(ham)