Katalog zu den gleichnamigen Ausstellungen vom 18.04. - 15.08.2010 im Museum der bildenden Künste Leipzig und vom 20.04. - 15.08.2010 in der Pinakothek der Moderne München.
Hrsg. von Hans-Werner Schmidt und Bernhart Schwenk mit Texten unter anderem von Luc Tuymans, Barbara Steiner und einer literarischen Annäherung von Uwe Tellkamp
Museum der bildenden Künste Leipzig, Pinakothek der Moderne, München/Hatje Cantz Verlag Ostfildern, 2010, ISBN 978-3-7757-252-0, 332 S., 170 Farbabbildungen, Broschur, Format 29 x 23,3 cm, € 38,-- (Museumsausgabe)/€ 49,80 (Buchhandelsausgabe)
‚Demos' waren in den studentenbewegten 1968ern vor allem Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam. Sie bleiben mit Parolen wie „Ho Ho Ho Chi Minh", gelegentlichen Straßenbarrikaden und -kämpfen und dem Tod von Benno Ohnesorg konnotiert. Im Leipzig der Vorwendezeit sind ‚Demos' zu friedlichen Montagsdemonstrationen mutiert, die unter anderem in der Nikolai-Kirche geistliche Begleitung fanden. Im verregneten Sommer von 2010 gipfeln die bürgerbewegten montäglichen und freitäglichen Demonstrationen gegen das demokratisch beschlossene und durch alle gerichtliche Instanzen bestätigte Bahnprojekt Stuttgart 21 im „Schwabenstreich", einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert auf alle Beschlüsse. Auf Neo Rauchs Malerei ‚Demos', 2004, Öl auf Leinwand, 300 x 210 cm, schickt ein grün uniformierter Polizist einen klein gewachsenen Bürger mit zwei Dynamitsprengsätzen vor dem Bauch auf den Betrachter zu. Eine Demonstrantin in schwarzen Stiefeln, kurzem braunen Rock und halblanger schmutzig-gelber Daunenjacke hält zwar noch ihr für die Demonstration selbst gefertigtes Schild in die Luft. Der Maler zeigt die Rückseite; deshalb kann man nicht lesen, was darauf steht. Aber die lockenköpfige Demonstrantin ist nicht mehr so richtig bei der Sache. Sie wendet sich ihrem feisten Kampfhund zu, der sich über einen Knochen hermacht. Ein zweiter Demonstrant hat sein Schild geschultert und verlässt eiligen Schritts die Szene. Ein dritter scheint an einen vielleicht vor Jahresfrist gesetzten Baum gefesselt. Einer der drei Haupttriebe ist abgeknickt. Der Demonstrant ist nackt. Aus dem mittleren Fenster eines turmbewehrten Hauses hält eine Person eine Rede. Auf den gefesselten Nackten segeln fünf schwarze Scheiben herab, auf dem die Großbuchstaben D, E, M, O, S stehen. Zusammengesetzt ergeben sie das Wort, das im Griechischen für ‚Volk' steht. Malereien wie ‚Demos', ‚Vorort', 2007, auf dem Protestierende Fahnen verbrennen und ‚Ordnungshüter', 2008, auf dem ein weiterer Mann mit einem Sprenggürtel vor dem nackten Bauch zu finden ist, bestärken den langjährigen Begleiter der Kunstszene und sensiblen Filmemacher Rudij Bergmann in seinem Urteil, dass sich Neo Rauchs surreale Bildcollagen mit der „Katastrophe Welt" auseinandersetzen: ‚Ordnungshüter' ist für Bergmann eines „jener zentralen Rätselbilder, in denen die Zeit den Atem anhält und das Bildpersonal in jene Trance versetzt ist, von der zu hoffen ist, dass niemand mehr aus ihr erwacht. Mit seinen bizarren Gestalten eine bitterböse Persiflage auf Terrorismus und Fanatismus, ist es das zentrale Werk der politischen Malerei des Neo Rauch, das sich, künstlerisch verrätselt, mit der ‚Katastrophe Welt' auseinandersetzt - mit ihren zivilisatorischen Verwerfungen und Erlösungsfantasien. Und das ist für mich das eigentliche Thema von Neo Rauch" (Rudij Bergmann in den Stuttgarter Nachrichten Nr. 91 vom 21.04.2010, S. 14). Ulrike Lorenz, die Direktorin der Kunsthalle Mannheim hält dagegen, dass in Neo Rauchs metamorphotischer Malerei gar nichts sicher ist. „Mittels polyvalenter Bedeutungen, Allusionen und Assoziationen, rhetorischer Techniken und thematischer Verschiebungen entzieht er sich dem Zugriff der Zeitgenossen" (Ulrike Lorenz). Gary Tinterow, Kurator des Metropolitan Museums von New York wiederum erinnert daran, dass Deutungen der Faszination keinen Abbruch tun. Er erinnert an Francis Bacon und die Erfahrung, dass die Betrachter und Kritiker nach seinem Tod von seinen Gemälden nicht trotz der Tatsache, dass sie sein Leben, seine Situation und seine Überzeugungen spiegeln, fasziniert sind, sondern weil sie soviel über die europäische Geschichte zu Bacons Zeit und seine eigene, besondere Situation verraten. „Sollten wir in unserem postmodernen Zeitalter Rauch nicht um Erlaubnis bitten können, an seinem bemerkenswerten Oevre aus denselben Gründen Gefallen zu finden?" (Gary Tinterow). Rauch selber besteht natürlich auf dem Primat der Malerei: „Ich will nicht verhehlen, dass mir jene Betrachter die willkommensten sind, die meine Bilder vorrangig als Malerei wahrnehmen... Ich verhalte mich vor Tintoretto oder Beckmann ja schließlich auch nicht anders" (Neo Rauch). Und weiter: „Bei aller Lust an der Interpretation soll doch der Malerei das Privileg vorbehalten bleiben, das Nichtverbalisierbare in eine sinnfällige Struktur zu fügen... Auf mich wirkt Malerei immer dann am stärksten, wenn sie mit der absichtslosen Selbstverständlichkeit eines Naturereignisses auftritt und mir einen Erkenntnisgewinn über den Antrieb des Staunens und der sinnlichen Erfahrung einspielt" (Neo Rauch). Aber er gesteht immerhin zu, dass seine Malerei etwas mit ihm selber, seiner Zeit und seiner Welt zu tun hat: „Mein Malen ist natürlich in erster Linie ein ausgesprochen selbstbezogenes Unterfangen, das mich in seiner Komplexität kokonartig einspinnt und für die Dauer des Schaffensprozesses aller Außenbildungen enthebt" (Neo Rauch). Der mit Neo Rauch seit langen Jahren engstens verbundene Leipziger Maler Hartwig Ebersbach, der Pate, zieht diese Spur auf den mit der Namensgebung verbundenen früh verstorbenen Vater aus und leitet daraus den Lebensauftrag ab. „Vater/Subjekt./ Traum oder Ekstase,/ so erhebt der Sohn/ den Verlust/ als Klage./ Zur Selbstanrufung wird/ die Frage:/Woher, Warum, Wohin, Ich?/ Begehr macht Last,/ nicht Lust, nicht Milde,/ auf dem Wege zu sich selbst,/ an seines Vaters Bilde./ Bannung./ Magie./ Als Großprojektion,/ mit dem Hauch des Heiligen,/ für den staunenden Sohn./ So erhofft er schon/ im eigen Gewordensein/ Des Vaters Findung./ NEO/. Letztlich ist noch die Namensgebung/ Bestimmung, Begründung/...Kaspar, Dein Pate./ H.E." (Hartwig Ebersbach).
(ham)