Jonathan Meese, Totalsgedichte aus dem Erzland
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2010, ISBN 978-3-86560-861-1, 200 S., zahlreiche s/w-Abbildungen, Hardcover gebunden, eine DVD mit den Performances ‚Volksrede', ‚Der rechtsfreie Raum' und ‚Metabolismama', Format 30,2 x 21,4 cm, € 34,--
Radikaldemokraten wie der aufrechte Schwabe, langjährige Hochschullehrer und politische Aktivist Wolf-Dieter Narr haben ein Leben lang über Herrschaftsformen nachgedacht, in der die Menschenrechte und die Ideale der Französischen Revolution präziser zum Ausgleich kommen können als in der gegenwärtigen bundesrepublikanischen repräsentativen Demokratie. Wenn Narr Anfang Dezember 2010 in einem Vortrag im Hospitalhof Stuttgart zum Schluss kommt, dass Politik vor allem aus Gründen struktureller Überforderung in der globalisierten Ökumene auf Lüge programmiert ist, lässt das aufhorchen. Auch sein Hinweis, dass in der bundesrepublikanischen Verfassung die Rolle des Volkes unterdeterminiert bleibt, hat Signalcharakter. Demokratische Aufbrüche aus der Mitte des Volkes wie die Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und das dort öffentlich skandierte „Lügenpack" zeichnen ein Panorama, in das sich die von Jonathan Meese seit einigen Jahren ausgerufene ‚Diktatur der Kunst' widerständig und passgenau einfügen lässt. Passgenau deshalb, weil Meese wie Narr und die Stuttgart 21-Gegner prinzipiell an den bisherigen Formen des Ausgleichs zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit zweifelt. „Menschen können und dürfen mit Macht nicht umgehen: Menschen mit Macht werden immer Machtmissbrauch betreiben, Menschen an der Macht werden immer andere Menschen instrumentarisieren und kaltstellen" (Jonathan Meese). Im Kontext von demokratietheoretischen Diskursen bleibt Meese widerständig, weil er sich den erwarteten Ausgleich nicht mehr von der Demokratie verspricht. „Ist die Weltdiktatur der Demokratie wirklich der Weisheit letzter Schluss, ist die ‚Demokratie' nicht vielleicht die Wurzel allen ‚Übels'...?!? Ist die Herrschaft von Politik und Politikern nicht vollends ausgereizt und ekelhaft, ist nicht vielleicht Politik der Menschen das Urgrauen, ist nicht vielleicht ‚Religionssucht' das ‚Widerlichste', ist es nicht ‚Totalstzeit' mal etwas anderes als Menschen oder/und Götter an die Macht zu bringen ... Wäre nicht die Kunst an der Macht das Geilste? Die Kunst produziert nun mal keinerlei Opfer, ist das nicht toll ?!? Warum liebt es der Mensch Menschen in Täter und Opfer aufzuteilen, warum konstruiert der Mensch ‚Herrschaftsformen', die auf ‚Feindseeligkeiten' und ‚Ausgrenzungen' aufgebaut sind, wie die ‚Weltdiktatur der Demokratie'?!? Warum liebt der Mensch das ‚Niederknien' vor anderen Menschen" (Jonathen Meese). Eine generelle, im Wesen des Menschen liegende Antwort sucht man bei Meese vergebens. Und er wundert sich, dass er nicht selber nach Herrschaft strebt: „Jonathan Meese ist Erzhumpty Dumpty der Kunst, also das hemmungsloseste Spielkind. Jonathan Meese ist zum Glück, nach wie vor nach Jahren im Kunstbetrieb immer noch ein Problem (Kind), Wahnsinn, wie schafft es das ... der Zustand Jonathan Meese ist für alle Zeiten neutralst, also immun gegen jegliche ‚Demokratisierung'. Jonathan Meese wurde zum Glück von der Seuche ‚Weltdiktatur der Demokratie' vergessen, wie Alex de Large und das Totalbaby Meese ist auch durch keinerlei Demokratiewahntherapie umzupolen. Der geile Geilspieß der Sache dreht sich lieb um, Diktatur der Kunst ist Herrschaft der Sache. Jonathen Meese ist unheilbar... und wird am Ende genau das sein, was es am Anfang war: Das Zardozbaby ‚Erzhumpty Dumpty'" (Jonathan Meese). Was ist dann aber das Ziel der Kunst, fragt Meese kathechismusartig. Und er antwortet: „Ihre Herrschaft! Was kann der Mensch für die Kunst tun? Dienen!! Wie dient der Mensch der Kunst??? Durch stramm stehen!...!!!"(Jonathan Meese). Dass Meese von ‚Dienern der Kunst' Strammstehen verlangt und dass die „Führerbefehl der Kunst" „unabdingbar, totalst und peinlichst genau durchzuführen" sind, dass Widerstand zwecklos ist und „nur zur Selbstvernichtung" führt, verwundert dann aber doch. Man fragt sich, wie man als Demokratie- und Kunstliebhaber mit diesem Herrschaftsanspruch der anderen Art umgehen soll. Eine mögliche Antwort wäre, dass es Meese nicht um reale Politik und auch nicht um das wirkliche Leben geht, sondern um das Leben auf der Bühne, um performative Akte, um Kunst... Auf der Bühne könnte dann das Stück aufgeführt werden, das Meese auf dem rückwärtigen Cover seiner „Totalstgedichte aus dem Erzland" ankündigt: „Aufstieg und Fall und Wiederaufstieg des Totalbabys der Diktatur der Kunst Jonathan Meese. Es entsaftet alle: Ein Fallbeispiel des Totalstprolllls der Diktatur der Kunst Jonathan Meese (1. Gesetz der Saukunst: Selbstdenunziation)"
(ham)