Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen
Fundus-Bücher178, hrsg. von Jan-Frederik Bandel
Philo Fine Arts, Hamburg 2010, ISBN 978-3-86572-654-4, 528 S., 76 s/w- und Farbbildtafeln, Hardcover gebunden mit Lesebändchen, Format 16,5 x 10,5 cm, € 26,--
Die Untersuchung versteht sich nicht primär als Kommentar zur Fotografiegeschichte, sondern als Beitrag zur Frage nach den Bedingungen apparativ erzeugter Bilder am Beispiel der Fotografie. Sie geht von einer Aufnahme des ungarischen Fotografen André Kertész von Paris aus dem Jahr 1929 aus, die einen abschüssigen Straßenzug im 18. Arrondissement und dahinter den Turm der Kirche Notre Dame de Clignancourt und das Häusermeer der Stadt zeigt. Als das Glasnegativ später zerbricht, gibt Kertész der Arbeit den Titel ‚Brocken Plate’. Die Aufnahme zeigt Paris, aber zugleich auch das Glas, aus dem das Bild gemacht ist. Dank eines Unfalls ist sichtbar geworden, was für gewöhnlich in der gläsernen Transparenz des Bildträgers verschwindet. ‚Broken Plate’ lässt den Blick des Betrachters endlos zwischen dem Bild der Stadt und dem sichtbaren Material des Bildes, zwischen der Repräsentation und dem Netz aus Rissen, das sie unterbricht, oszillieren. Damit zeigt ‚Broken Plate’ eine Seite der Fotografie, die gleichberechtigt neben der von Roland Barthes stark gemachten steht, nach der das Wesen der Fotografie in der Kunst des Verschwindens besteht, in der Kunst, sich als Medium aufzuheben. Kertész ‚Broken Plate’ erzählt eine andere Geschichte. Man sieht die Stadt mit ihren Fassaden, Kaminen und Mansardendächern, aber man sieht auch, dass ein Teil des Sehfeldes herausgebrochen ist. „Diesem Zusammenspiel von Effekt und Negation, Bild und Bildstörung ist der folgende Text gewidmet. Die Fotografie von Kertész steht an seinem Beginn als Emblem einer Geschichte des Bildes, deren Programm Georges Didi-Hubermann folgendermaßen skizziert hat: ‚Es wäre eine Geschichte der Symptome, in denen die Repräsentation zeigen würde, woraus sie gemacht ist, und zwar in eben dem Moment, in dem sie bereit ist, sich zu entblößen, sich außer Kraft zu setzen und ihren Sprung auszustellen’ … In seiner Gleichzeitigkeit von Bildgebung und Bildzerstörung steht ‚Broken Plate’ … für einen Zusammenhang, der für die folgende Darstellung entscheidend sein wird: Sobald ihre Transparenz unterbrochen wird, fällt die Fotografie auf. Der Betrachter sieht dann nicht länger (nur) das Motiv, um dessentwillen die Aufnahme gemacht wurde, ihren Stil oder ihre Form, sondern (auch) das Material, in dem sie erscheint“ (Peter Geimer). Die nachträgliche Beschädigung von ‚Broken Plate’ stellt dabei nur einen möglichen Fall der fotografischen Irritation dar, die nachträgliche Beschädigung eines ursprünglich intakten Bildes. Die Geschichte der Fotografie weist aber zahlreiche Fälle auf, in denen das Motiv gar nicht zum Vorschein kam, auf halbem Weg seiner Sichtbarwerdung verloren ging oder sich bis zur Ununterscheidbarkeit mit dem Nebel der Fotochemie vermischte. Wenn man diesen Hinweis und die unhintergehbare Materialität der Fotografie ernst nimmt, muss neben dem vollendeten Produkt und der Sichtbarkeit in gleichem Maß auch der Prozess der Herstellung der Fotografie und ihre Sichtbarmachung in Augenschein genommen werden.
Dieser doppelten Perspektive gilt die Untersuchung im ersten Kapitel in der Vorgeschichte der Fotografie nach: Untersucht werden zahlreiche durch Zufall entstandene Bilder und Bildungen, die sich über die Jahrhunderte in sensible Materialien eingeschrieben haben. Zu dieser Vorgeschichte gehört zweifellos auch das Grabtuch von Turin, das im Jahr 2010 erstmals wieder seit zehn Jahren gezeigt wird und, ob echt oder nicht, wieder Millionen Besucher anlockt. In der Studie erscheint das Sindone als Fallbeispiel für die Dialektik von Fakt und Artefakt und für die Frage, ob das, was die fotografischen Platten wiedergeben, überhaupt außerhalb der Fotografien existiert oder ob es sich um Produkte des fotografischen Instrumentariums selbst handelt. Im Ergebnis folgt die vorliegende Untersuchung im Wesentlichen der Kritik eines naiven Realismus. Die Fotografie ist im Wesentlichen künstlich erzeugt und kein Analogon in der Welt. Dennoch bleibt ein „irreduzibler Rest - jene Dimension der Fotografie, die sich nicht eigentlich ‚erfinden’ oder ‚konstruieren’ lässt, sondern die vorfallen, eintreten, sich ereignen muss. Eine Fotografie ist eben auch ein Vorfall. Etwas im Bild fällt vor oder etwas fällt ins Bild … So war auf den vorangegangenen Seiten vor allem vom Unvorhersehbaren der Fotografie die Rede, von der ‚Aufdringlichkeit’ des Materials und den fotochemischen Dämonen und ‚Feinden’ des Fotografen. Es ging um die ungewollten Spuren des Lichts, die man als uneigentliche ‚Vorgeschichte’ an den Rand der fotografiehistorischen Genealogien gerückt hatte und um die blinden Flecken und Zeiträume der Aufzeichnung, in denen die Apparaturen sich selbst überlassen wurden. Der Anteil des Fotografen am Bild … ist (aber) keine statische Kategorie… Die teilweise Selbsttätigkeit der fotografischen Aufzeichnungsgeräte zeigt sich … nicht als Hindernis, sondern im Gegenteil als unerlässliche Bedingung der Sichtbarmachung… Eine fotografische Aufzeichnung, die sich restlos vorhersehen, gestalten und kontrollieren ließe, wäre in diesem Zusammenhang redundant… Die Mehrzahl der Bilder, von denen hier die Rede war, beruht auf einem solchen Zusammenwirken von Steuerung und Desorientierung, Gestaltung und Zufall, Intervention und Vorhersehbarkeit. Beide Modi schließen sich nicht aus, sondern ergänzen einander oder bedingen sich wechselseitig. Aus diesem Grund wurde hier keine weitere Demaskierung fotografischer Bilder geboten, keine erneute Entlarvung ihrer scheinbaren Natürlichkeit, vielmehr eine Darstellung der irreduziblen Verschränkung von Künstlichkeit und Natürlichkeit, Konstruktion und Vorfall, Anteil des Fotografen und Anteil des Apparates… Es kommt darauf an, beides ins Auge zu bekommen: Die Herstellung und die notwendige Unvorhersehbarkeit des Hergestellten, das Intentionale und den Vorfall, die Repräsentation und ihre mögliche Unterbrechung. Diese Modi stellen keine Gegensätze dar, für oder gegen die man optieren könnte. … Deshalb kann das zersprungene Glas einer Fotografie neben Barthes’ Apologie der fotografischen Transparenz stehen, ohne diese einfach zu dementieren“ (Peter Geimer).
(ham)