Publikation zu den gleichnamigen Ausstellungen vom 30.01. – 26.04.2009 in der Hamburger Kunsthalle und vom 28.03. – 06.06.2010 in der Villa Merkel und im Bahnwärterhaus der Galerien der Stadt Esslingen mit Texten unter anderem von Frank Barth, Dirck Möllmann, Gunnar F. Gerlach und Astrid Proll
Hamburger Kunsthalle 2009, 2010 von den Galerien der Stadt Esslingen übernommen und mit einem Schutzumschlag versehen, ISBN 978-3-938002-28-5, 168 S., zahlreiche s/w- und Farbabbildungen, Borschur, Format 28 x 22 cm, € 9,--
Die barock aufgestellte ambitionierte und mit Arbeiten unter anderem von Mario Asef, Günter Brus, Stephan Huber, Stefan Hunstein, Bruce Nauman und Cindy Sherman bestückte Ausstellung ‚Man Son 1969/Man 9196 Son –Vom Schrecken der Situation’ verzichtet weitgehend auf den analytisch-diskursiven Umgang mit den 1960er Jahren und ihren Phänomenen von Flower-Power, Drogenexperimenten, psychodelischen Erfahrungen, Woodstock, den ersten Schritten auf dem Mond, der Studentenrevolte, den Anti-Vietnam-Demonstrationen, der Parole „Make love not war“, den Brandsätzen der RAF in Kaufhäusern, der Ermordung von Benno Ohnesorg, den Morden an Sharon Tate und anderen in Hollywood und den späteren Morden der RAF. Sie setzt stattdessen auf einen visuellen Essay und spielt in ihrem Titel mit den Namen des selbst ernannten Messias-Menschensohns Charles Manson, der als geistiger Vater der Hollywood-Morde vom 9., 10. und 11. August 1969 gilt. Mit Manson wird die frühe RAF und darunter unter anderem Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin assoziativ verbunden. Baader und Ensslin hatten sich 1969 nach den Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen als Hans und Grete nach Paris abgesetzt und dort bei Régis Debray Unterschlupf gefunden haben. Astrid Proll hat den Aufenthalt fotografisch dokumentiert. Stefan Michael steuert die Geschichte der lange verweigerten letzten Ruhestätte Ulrike Meinhofs bei. Als Ganzes wirft die Ausstellung und die sie begleitende Publikation die Frage auf, ob sich eine in sich völlig widersprüchliche Zeit wie die 1960er Jahre visuell auf den Punkt bringen lassen. Man muss sie klar verneinen.
Darüber hinaus läuft die Ausstellung Gefahr, Täter zu heroisieren. Wer etwa Stefan Hunsteins Triptychon ‚69’, 2009, Fotografie, dreiteilig, insgesamt 220 x 440 cm uninformiert begegnet, wird den mit einem Hakenkreuz auf der Stirn abgebildeten Charles Manson auf der mittleren Tafel möglicherweise als wirren, Mitleid heischenden Psychopathen, vielleicht aber auch als verkannten Propheten sehen. Auf der rechten Tafel die amerikanische Flagge auf dem Mond. Die Anspielung auf den Hells-Angles-Mord beim Abschlusskonzert der Rolling Stones auf dem Altamont Speedway in Kalifornien Ende 1969 auf der linken Tafel wird aber kaum einer entschlüsseln können. Deshalb wird man sich visuell an Manson halten und die Begleitumstände vernachlässigen. Sehr viel deutlicher zeigt Stephan Huber in seinem Marionettentheater „Love and Peace“ von 2009, was 1968 f. tatsächlich passiert. Kasperl begibt sich auf eine Zeitreise zurück in die Jahre 1968 und 1969. In Frankfurt begegnet er Adorno. Gelangweilt reist er nach New York weiter. Dort wird Andy Warhol von Valerie Solanas niedergeschossen. Er beamt sich nach Los Angeles auf eine Party der Beach Boys. Charles Manson und Frauen der „Family“ hängen herum, der Schlagzeuger Dennis Wilson, der Drogenpapst Timothy Leary und andere. Die Stimmung wird bedrohlich. Schließlich wird er in Altamont vor der Bühne der Rolling Stones ermordet. Im Epilog schneiden Jugendliche die Fäden ab. Nur einer kommt durch, Charles Manson, doppelt präsent als Puppe und als Strippenzieher hinter der Bühne.
Dass sich der mediale Diskurs in Esslingen an den dort erstmals ausgestellten Totenmasken der RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan Carl Raspe entzündet, unterstreicht die strukturelle Grenze der an Bildern orientierten Kommunikation. Wo Bilder regieren, kommen die verstehende Analyse und der auf Verständigung angelegte Diskurs zu kurz. Wo der rationale Diskurs vorherrscht, wird tendenziell vergessen, dass es im eigenen Rücken einen Sack von Argumenten gibt, den man selber übersieht. Damit wird überdeutlich, dass eine Ausstellung wie Man Son keine Zeitgeschichte, aber auch keinen theologischen Diskurs ersetzt: Letzterer würde unstrittig klären, dass sich Charles Manson niemals auf den biblischen Menschensohn berufen kann. Zwar füllte der Streit, ob sich Jesus von Nazareth selber als Menschensohn bezeichnet und verstanden hat, Bibliotheken. Aber niemand zweifelt daran, dass er das Reich Gottes und nicht das Grauen der Apokalypse heraufführen wollte. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Aber das ist eine andere Geschichte.
(ham)