Raum Bilder Klang
Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Max Ernst Museum Brühl des LVR vom 22.11.2009 – 31.03.2010
Hrsg. von Werner Spies mit Texten unter anderem von Dietmar Dath, Peter-Klaus Schuster und dem Herausgeber
Max Ernst Museum Brühl/Hatje Cantz Verlag Ostfildern, 2009, ISBN 978-3-9811895-4-4, 352 S., zahlreiche s/w- und Farbabbildungen, Hardcover gebunden, Format 24,5 x 30,7 cm, € 34,-- (Museumsausgabe)
Die meisten werden schon einmal vom Fliegen geträumt und sich mit Sigmund Freuds Deutungsvorschlag befasst haben. Vögel fliegen. Engel werden als Boten zwischen Immanenz und Transzendenz mit Flügeln ausgestattet gedacht; aber Gottes Engel brauchen keine Flügel. Immer wieder scheitert einer wie Ikarus an seinem Traum. Wer den in Zusammenarbeit mit der Fondation Cartier pour l’art contemporain zur Ausstellung im Max Ernst Museum Brühl erschienenen vorzüglichen Katalog in die Hand nimmt, wird durch das dem Namen ‚David Lynch’ unterlegte, offensichtlich historische Coverfoto an seine Träume vom Fliegen erinnert. Es zeigt eine nackte Frau, die wie nach einem Sprung vom Sprungbrett im Luftraum über dem Wasserbecken zu schweben scheint. Aber auf dem Foto ist kein Sprungbrett und auch kein Wasserbecken vorhanden. Gezeigt wird ein Innenraum, der sich nach rechts neben einem Vorhang nach außen öffnet.
Der Max Ernst-Experte und Herausgeber Werner Spies lässt an einen surrealistischen Kontext denken und man liest dann auch mit Interesse, was der Cineast und Maler Lynch selbst schreibt: „Und obwohl ich aus Missula, Montana, stamme, einem Ort, der wohl kaum die Welthauptstadt des Surrealismus ist, finde ich, dass man wirklich überall … die Fremdartigkeit der heutigen Welt beobachten kann …“. Im Surrealismus betritt der Künstler seine „andere Welt“. Als Künstler behält er sein Geheimnis. Spies stellt unter anderem, und das hat man erwartet, Beziehungen zu Max Ernsts Collageroman ‚La femme 100 têtes…’ her. Er beschreibt den Filmemacher als einen vor allem von seiner Malerei beeinflussten Künstler, der in Franz Kafka so etwas wie seinen Bruder sieht. Neben Ernst gelten unter anderem Edward Hopper und Francis Bacon als malerische Bezugsgrößen. Über seine Malerei ist Lynch dann auch zum Film gekommen. „Ich war also Maler. Ich malte und besuchte die Kunstakademie … Ich saß an meiner Staffelei; es war gegen drei Uhr nachmittags. Ich arbeitete gerade an einem Bild, einem Garten bei Nacht. Es gab darin viel Schwarz, mit grünen Pflanzen, die aus der Dunkelheit hervorbrachen“ (David Lynch). In dieser Situation, so Lynch, habe er plötzlich den Eindruck gehabt, als höre er Wind und als bewege sich auf seiner Leinwand eine Figur. Es sei ein halluzinatorisches, fantastisches Erlebnis gewesen. Er habe keineswegs unter dem Einfluss von Drogen gestanden. Und er habe sofort darüber nachgedacht, wie sich mit Mitteln und Möglichkeiten des Films Gemälde in Bewegung setzen lassen. Die entsprechenden Filme und Gemälde erinnern an eine Psychopathologie aus Gewalt, Kriegsgräuel, Mord, Totschlag und Verletzung und lassen unter anderem an Goyas Zyklus ‚Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer’ und an seine Kriegsbilder denken. Die Mehrzahl von Lynchs Installationen, Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, Lithografien und Fotografien kontrastieren höchst auffällig mit dem mehr oder weniger friedlichen Traum vom Fliegen.
Beim genaueren Studium des Katalogs fällt auf, dass das Titelbild aus einer von Lynch teils als ready-made, teils digital bearbeiteten Serie historischer Aktfotografien stammt, die Lynch ‚Distored Nudes’ nennt. Das Titelbild ist als Digitaldruck ausgewiesen und entstand im Jahr 2004. Aber weitaus interessanter ist die im Katalog dem Titelbild gegenüber gestellte Lynch-Lithografie auf Japanpapier aus dem Jahr 2007 ‚I see myself’. Sie zeigt einen wohl männlichen Körper, der nicht wie die Nackte von rechts nach links in einen Innenraum, sondern von links nach rechts über eine Art Bühne fliegt, die von zwei Vorhängen begrenzt ist. Wie bei der Nackten hängen die Arme nach unten. Die Füße schweben wie ein in die Horizontale gekipptes Victoryzeichen waagrecht in der Luft. Der Fliegende wird von einem aus dem Bühnenboden herausschießenden Büschel von Fingern oder Penissen in der Luft gehalten. Wenn man will, kann man den schwarzen Strich, der aus der Schamgegend der Figur unter dem Körper nach rechts schießt, als erigierten Penis lesen. So weit so gut. Oder nicht?
Spätestens jetzt erinnert man sich, dass David Lynch zu den Anhängern des kürzlich verstorbenen Maharishi Mahesh Yogi und der transzendentalen Meditation gehört. Jedem, der ernsthaft künstlerisch arbeiten will, empfiehlt Lynch die Meditation dieser Richtung an. Auf seiner Website stellt er deren Vorzüge ausführlich dar. Man beginnt, sich darüber zu wundern, dass Werner Spies darüber nicht ein Wort verloren hat.
Anders Peter-Klaus Schuster. Wie Spies hat er auch er versucht, dem Geheimnis des Kults um diesen Künstler auf die Spur zu kommen und ist dazu eigens in Lynchs Produktions- und Lebensort nach Hollywood gereist und dort auf ein mit drei Gebäuden bebautes, von der Straße abgeschirmtes Areal gestoßen, in dem Lynch lebt und seine Ideen gebiert. Im Ergebnis hat sich für Schuster nach der Reise das Rätselhafte des Künstlers und seiner Kunst eher vergrößert als verkleinert. Schuster benennt Lynchs Bekenntnis zur transzendentalen Meditation und eröffnet damit die Chance, sein Selbstporträt als Fliegender nochmals anders zu lesen. Die von Lynch seit 1973 praktizierte transzendentale Meditation bedeutet für ihn keineswegs eine Schwächung des Wollens. Sie bewirkt „das Eintauchen in die reine Kreativität“. Ihr Ergebnis ist das „absolut reine Sein“, erfüllt von „Friede, Liebe, Energie und Kraft“ (David Lynch).
Über den Zusammenhang von Transzendentaler Meditation, Geld und Geschäft wird freilich auch bei Schuster nicht geredet. Dies bleibt dem Regisseur David Sieveking und seinem Film „David wants to fly“ vorbehalten (vergleiche dazu Diedrich Diederichsen, Endlich fliegen, aber wie? in: Die Zeit Nr. 19. vom 06.05.2010, S. 60). Sieveking ist seither bei den Anhängern der TM in Ungnade gefallen. Man versteht das ja …
(ham)