Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 30.04. – 05.06.2010 in der Galerie Michael Schulz, Berlin
Hrsg. von Christiane Bühling-Schultz mit einem Text von Martin Hellmold
Galerie Michael Schultz, Berlin/Kerber Verlag, Bielefeld/Leipzig, Berlin, 2010, ISBN 978-3-86678-416-1, 88 S., zahlreiche Farbabbildungen, Hardcover gebunden, Format 30,6 x 24,4 cm, € 33,80
Cornelia Schleime thematisiert in ihren jüngsten Malereien und Camouflage-Zeichnungen bildnerische Übergänge vom Tier zum Menschen. Das Titel angebende Motiv „Wer aus mir trinkt, wird ein Reh“ stammt aus dem Grimmschen Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“. Dort nimmt das Brüderchen das Schwesterchen an die Hand und spricht: „Seit die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr; die Stiefmutter schlägt uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns mit den Füßen fort….. Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen“. Sie landen in einem Wald, schlafen ein und als sie am anderen Morgen erwachen, hat das Brüderchen einen nicht stillbaren Durst. Sie suchen und finden einen Brunnen. „Die böse Stiefmutter aber war eine Hexe …. und hatte alle Brunnen im Walde verwünscht“. Beim ersten Brunnen, den sie finden, hört das Schwesterchen, wie es im Rauschen spricht: „Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger …“ Beim zweiten hört es: „Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf …“ Das Schwesterchen bittet das Brüderchen inständig nicht zu trinken, da es sonst zerrissen würde. Beim dritten Brunnen kann sich das Brüderchen aber nicht mehr zurückhalten. Sein Durst ist zu groß. Das Schwesterchen hört im Rauschen: „Wer aus mir trinkt, wird ein Reh …“ Und so geschieht es dann auch. Beim ersten Tropfen auf den Lippen verwandelt sich das Brüderchen in ein Rehkälbchen. Cornelia Schleime setzt die Verwandlung des Brüderchens in ein Reh in ihrer zweiteiligen Malerei „Wer aus mir trinkt, wird ein Reh“, 2009, Acryl, Asphaltlack, Schellack auf Leinwand, 200 x 360 cm voraus, zeigt aber eine spätere Situation. Brüderchen und Schwesterchen sind wie Königskinder gekleidet, einander nach wie vor innig verbunden, aber bildnerisch durch einen Baum getrennt.
Man kann vermuten, dass Schleime ihren bildnerischen Zugang zum Thema Metamorphosen nicht unabhängig von ihren zahlreichen Arbeits-, Stipendien- und Studienaufenthalten unter anderem in Indonesien, Brasilien und Hawaii gefunden hat und deshalb auch nicht auf Beispiele aus der Kunstgeschichte zurückgreifen muss. Martin Hellmold schlägt vor, Schleimes Interesse an der Verwandlung in Anlehnung an John Berger an der Entmachtung des Betrachters zu sehen: „Wie Berger feststellt, blickt der Mensch auf das Tier ‚immer über einen Abgrund aus Ungewissheit und Angst’. Zwar ist der Blick des Tieres dem menschlichen verwandt und wirkt uns deshalb vertraut, und doch ist das Tier verschieden und kann nie mit einem Menschen verwechselt werden’. Während zwei Menschen den zwischen ihnen bestehenden Abstand durch die Sprache verringern können, gewährleistet das Schweigen des Tieres ‚seine Distanz, seine Verschiedenheit, seine Ausgeschlossenheit vom Menschen’. In ihren zoomorphen Bildnissen macht sich Cornelia Schleime diese Fremdheit des Blicks zwischen Mensch und Tier zu Nutze und setzt sie als Effekt der Distanzierung ein. Das Ziel, das sie damit erreicht, liegt in der Entmachtung des Betrachters“ (Martin Hellmold). Vergleichbares gilt für ihn in Schleimes Serie der Camouflage-Zeichnungen: „Die Frauen in Cornelia Schleimes Camouflage-Bildern verbergen sich durch animalische Metamorphosen. Wovor sie Schutz suchen, bleibt offen … Sicher ist nur, dass es den Frauen ernst ist mit ihrer Tarnung… Neben … Attributen wie Gehirn oder Schafsköpfe verbinden sich einige der Mädchen- und Frauengestalten mit amphibischen Wesen oder mit dem Wasser selbst. Die Frauen treten hier ganzfigurig in Erscheinung. Auch darin unterscheiden sich die Zeichnungen von den Gemälden … Die meisten der Frauen sind in weich fließende Kleider gehüllt, die ihren Körper auch an Land schon wie eine Woge umströmen. Die wenigen Akte drücken Gelassenheit und Selbstvertrauen aus. Die hier gezeigten Frauen sind frei von dem Gestus der ausdrücklichen Distanzierung, die in den halbfigurigen Bildnissen vorherrschte. Sie sind bei sich selbst, harmonisch gehen sie in ihrer Umgebung auf“ (Martin Hellmold).
(ham)