Hrsg. mit einem Nachwort von Gustav Frank
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2008, ISBN 987-3-518-58494-1, 497 S., € 32,80
„Was ist ein Bild?“ „Was ist der Unterschied zwischen Bildern und Worten?“ „Was also wollen Bilder?“ Es ist W.J.T. Mitchell, der vor gut zwanzig Jahren diese Fragen gestellt hat. Mit seinen Werken Iconology und Picture Theory hat er den „Pictorial turn“ angestoßen, zu dem seitdem in der internationalen Bildforschung eine lebendige Diskussion geführt wird. Allerdings waren Mitchells Werke bisher den deutschen Lesern nur vereinzelt zugänglich. Diese Lücke hat der vorliegende Auswahlband nun zu Teilen gefüllt, dem ein instruktives Nachwort von Gustav Frank beigegeben ist. Beinahe zeitgleich ist eine Textauswahl im C.H. Beck Verlag erschienen, was die Aktualität Mitchells unterstreicht, allerdings auch Doppelungen mit sich führt.
Bilder, Kunstwerke, Medien, Figuren, Metaphern sind nach Mitchell nicht einfach rhetorische, kommunikative Instrumente oder epistemologische Fenster auf die Wirklichkeit. Sie führen ein Eigenleben und enthalten eine Sinndimension des Sichtbaren jenseits der Sprache. Mitchell führt zunächst in einen intensiven Diskurs mit der Sprachphilosophie, betätigt sich aber auch als Wanderarbeiter auf den Feldern der Kunstgeschichte, Philosophie, der Anthropologie, der Soziologie, Psychologie und der Theologie. Der Ertrag ist die Neubestimmung einer visuellen Kultur. Die Lebendigkeit der Bilder wird nach Mitchell in einer immer wieder kehrenden Angst vor den Bildern, einer Ikonophobie, deutlich. Solche Angst scheint auf, wenn Platon im Höhlengleichnis vor dem Beherrschtwerden durch die Abbilder, die die Menschen gefangen halten, warnt. Sie äußert sich in Lessings Distinktion zwischen den visuellen und literarischen Künsten, wird erneut erkennbar in Wittgensteins Warnung vor der Gefangenschaft durch das Bild und vollends vollzogen in der endgültigen Proklamation eines „linguistic turn“. Mitchell scheut dabei selbst keine drastischen Metaphern. Bilder sind „lebende Gattungen“ vergleichbar mit „ko-evolutionäre(n) Lebensformen auf der Ebene von Viren“, die sich in Künstlern als „Wirte“ fortwährend reproduzieren und „sich gelegentlich in jenen denkwürdigen Exemplaren manifestieren, die wir ‚Kunstwerke’ nennen“ (290). Bilder wollen darum an ihre eigene Idee der Visualität erinnert werden, vor allem wollen sie nicht in Sprache verwandelt werden.
Seit Beginn der 90er Jahre institutionalisierte Mitchell seine Erkenntnisse mit der Einführung der „Visual Studies“ als eigenständiges Fach in der universitären Ausbildung. Er verband es mit dem Anspruch, die „Visual Studies“ als Leitdisziplin zu etablieren und ihr die Ästhetik und die Kunstgeschichte zuzuordnen. Mitchells Ausführungen blieben nicht unwidersprochen. Kritisiert wurden die unscharfe Abgrenzung des Faches und insbesondere das Postulat von immateriellen Bildern. Mitchell sucht hierzu die konstruktive Auseinandersetzung und beschreibt die von ihm in ihrer Lebendigkeit evaluierten Bilder in einem dialektischen Verhältnis zu ihren materiellen Gegenübern. Die Unschärfe des Faches nimmt er bewusst als Methode in Kauf, um dem Betrachter die Neugierde als Motivation des eigenen Suchens und Fragens zu geben.
Nach der Lektüre bleibt Skepsis. Zu kurz gekommen scheint in der „Visuellen Kultur“ die Subjektivität des Künstlers wie auch die Subjektivität des Betrachters. Der Eklektizismus der Vorgehensweise gibt viele anregende Impulse. Es irritiert allerdings, wenn Mitchell einmal schnell über 10 Zeilen hinweg von der platonischen Ideenlehre zur aristotelischen Kunstauffassung als Leitparadigma springt (286), insbesondere auch deshalb, weil Aristoteles dem formalen Können des Künstlers einen eigenen Stellwert gegenüber dem Dargestellten zumisst. Der Theologie geben die Ausführungen Mitchells spannende Anregungen für eine Neudiskussion in der Verhältnisbestimmung zwischen Imago Dei-Lehre und Logos-Theologie, bei der sich wohl vor allem bei den Mystikern ein reicher Referenzrahmen finden wird.
(Heiko Naß)