Kaleidoskopartig habe man sich dem Thema aus unterschiedlichen theoretischen und künstlerisch-praktischen Richtungen genähert, so das Resumé einer Teilnehmerin. Und ihr Begleiter sieht sich durch diese interdisziplinären Zugangsweisen ermutigt, bei künftigen Ausstellungsbesuchen nun einmal selbst solchen Spuren des Heiligen nachzugehen, sie vielleicht gar aus seinem eigenen biographischen Kontext zu entdecken.
Zur Kooperationstagung der Evangelischen Akademie mit Artheon, der Gesellschaft für Gegenwartskunst und Kirche, wurden Referenten zu einem Thema eingeladen, das die Ausstellung Traces du Sacré im Centre Georges Pompidou Paris 2009 anhand von Kunstwerken zu visualisieren versuchte. Die Ausstellung war anschließend unter dem Titel Spuren des Geistigen im Haus der Kunst in München zu sehen. Bereits an dieser Neuakzentuierung zeige sich, so Pfarrer Helmut A. Müller, Vorsitzender von Artheon und Leiter des Bildungszentrums Hospitalhof Stuttgart, in seiner Einführung, dass heilig nicht als explizit theologischer Begriff aufzufassen sei, sondern vom jeweiligen religionswissenschaftlichen oder religionsphilosophischen Diskurs bestimmt werde.
Ausgehend von Schleiermachers Diktum, Religion sei Sinn und Geschmack für das Unendliche, über Johann Gottlieb Herder und Wilhelm von Humboldt stieg zu Beginn der Tagung Michael von Brück, Professor am Interfakultären Studiengang Religionswissenschaft an der Universität München, mit seinem Beitrag Inszenierung des Heiligen – ostasiatische Meditationsbilder ein in eine Beschreibung der Entwicklung des Begriffs des Heiligen. Das Buch Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen des deutschen Religionswissenschaftlers Rudolf Otto, erschienen 1917, prägte nachhaltig auch die Bildvorstellungen des Heiligen in Darstellungen der bildenden Kunst. Albert Einsteins Relativitätstheorie 1905 und deren revolutionierende Raum-Zeit-Vorstellung setzte eine Zäsur, die Wassily Kandinsky – angeregt durch indische Quellen - veranlasste, sich in Über das Geistige in der Kunst vom äußeren Objektivierbaren zum Inneren zu wenden, Kunst also nicht länger als naturhafte Abbildung, sondern als geistige Kodierung zu verstehen. Michael von Brück zeigte an eindrücklichen Bildbeispielen japanischer ZEN - Gärten und der Gedichtform des Haiku, wie die Inszenierung des Heiligen aufscheint im Augenblick, den unser westlicher Transzendenzbegriff in dieser Form nicht zu fassen vermag. Der Mensch selbst ist das Material, das er selbst in Resonanz zur Welt gestaltet.
Mit Bildbeispielen islamischer Kunst vergangener Jahrhunderte ging Tayfun Belgin, Direktor des Karl-Ernst-Osthaus-Museums Hagen, in seinem Beitrag Macht der Darstellung – Islamisches Bilderverbot, türkische Bildrealität auf dem Hintergrund der folgenschweren dänischen Mohammed - Karikaturen auf die historischen Wurzeln eines angeblichen Bilderverbots im Islam ein. Ein solch striktes Verbot lässt sich mangels einer Bildtheorie, wie sie in der abendländischen Renaissance entwickelt wurde, laut Belgin, in der islamischen Welt nicht nachweisen. Im Gegenteil: Der Orient sei ohne Bilder nicht denkbar. Ein heute in dieser Schärfe von den Islamisten vertretenes Bilderverbot lasse sich aus der Bildhistorie nicht begründen, da Bildnisse ausschließlich für Sultane produziert und durch die höfische Gesellschaft in der Abgeschiedenheit von der Bevölkerung, überwiegend Bauern und Handwerker, rezipiert wurden. Den Übergang einer Bildtradition von den Königs- und Fürstenhöfen auf das Bürgertum, wie wir es aus der mitteleuropäischen Kunstgeschichte kennen, hat es mangels der Ausbildung einer Bourgeoisie in der Türkei nicht gegeben.
Während die Referate des Freitagnachmittag und -abend entlang den historischen Wurzeln eines Bildverständnisses in den Weltreligionen nachgingen, widmeten sich die beiden Beiträge des Samstagvormittags bildwissenschaftlichen und linguistischen Untersuchungen.
Klaus Sachs-Hombach, Geschäftsführender Direktor am Institut für Pädagogik und Philosophie der TU Chemnitz, skizzierte in seinem Beitrag Das Bild als kommunikatives Medium Überlegungen zur Annäherung an einen weiter gefassten Bildbegriff. Bilder seien im Sinne einer allgemeinen Bildwissenschaft und in Anlehnung an die Etablierung einer allgemeinen Sprachwissenschaft wahrnehmungsnahe Zeichen. Wie bei der Verwendung sprachlicher Zeichen wollen wir auch mit Bildern etwas zum Ausdruck bringen bzw. mit diesen jemandem etwas zu verstehen geben. In einer Gegenüberstellung sprachlicher und bildlicher Zeichensysteme verwies Hombach auf die wahrnehmungspsychologische Ausrichtung des bildwissenschaftlichen Ansatzes, in dem zudem die Materialität und Medialität des Bildes von entscheidender Bedeutung sei. Wie bildende Kunst in einem dergestalt beschriebenen bildwissenschaftlichen Zugang Kontur finden kann, bleibt allerdings Gegenstand einer Untersuchung im jeweiligen Einzelfall.
In gleichsam archäologischer Grabungsarbeit trug Heiko Hausendorf, Professor für Deutsche Sprachwissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, sprachliche Schichten im Zugriff auf ein Kunstwerk ab. In seinem Vortrag Kommunikation durch und über Kunstwerke. Sprachwissenschaftliche Beobachtungen zur Kunst des Sprechens über Kunst ging er auf Eintragungen in Besucherbücher ein, die anlässlich eines groß angelegten Kunstprojektes im bayerisch-tschechischen Grenzraum auslagen. Dabei wurde deutlich, dass Kunstkommunikation nicht nur selbstverständlich über, sondern auf subtilem Wege auch durch Kunst stattfinden kann. Sobald wir etwas Wahrnehmbares unter Kunstverdacht zu stellen beginnen, gilt es ganz besonders differenziert vorzugehen, um nicht vorschnell einem Deutungsmuster zu erliegen. Noch vor dem Bewerten und Deuten gilt es also verstärkt ein Augenmerk zu legen auf die Fragen Was gibt es zu sehen? und Was weiß man darüber? im Sinne eines Beschreibens bzw. Erläuterns.
Der Nachmittag stand mit einem Atelier- und Ausstellungsbesuch ganz im Zeichen einer exemplarischen künstlerischen Spurensuche und –sicherung. Mit Nikolaus Lang, Teilnehmer der documenta 6 und documenta 8, konnte neben Christian Boltanski, Anne und Patrick Poirier und Charles Simonds einer der international renommiertesten Vertreter der Kunstrichtung Spurensicherung für das Thema und damit für die Tagung gewonnen werden. Mit Bussen machte man sich am Nachmittag auf den Weg nach Murnau, um Nikolaus Lang in seinem Atelier im Donisihof aufzusuchen. Praxisnah führte Lang die Besucher in seine künstlerische Spurensuche ein, indem er demonstrierte, wie er die vielfältig ausdifferenzierten Erdfarben der toskanischen Landschaft zu Pigmenten zerreibt und auf Papiere vermalt oder in Aufschüttungen zu Farbfeldern arrangiert. Tief bewegt zeigten sich die Teilnehmer von seiner Schilderung der Feuersbrunst, die 2003 seinen ehemaligen Wohnsitz in Bayersoien und damit den größten Teil seines bisherigen Lebenswerkes zerstört hatte. Aus den Ruinen und deren unmittelbarer Umgebung sammelte Nikolaus Lang bis zur Unkenntlichkeit geschmolzene Objekte, angekohlte Textilien und versengte Papiere auf und lagerte sie archivarisch in Obstkisten und Kartons auf dem Atelier-Dachboden seiner neuen Wohnstatt. Eine im wahrsten Sinne traumatisierende Spurensuche und –sicherung der eigenen familiären Tragödie. Nach und nach dokumentiert und restauriert er diese Gegenstände, hinterlegt die verkohlten Papier- und Stofffragmente wie eine Art Wundversorgung behutsam mit Gaze und entdeckt dabei in den Spuren der Zerstörung ästhetische Qualitäten. Das Feuer sei also nicht nur destruktiv, sondern setze auch ohne jegliches menschliche Zutun ungeheure schöpferische Potentiale frei, die es für ihn nun sukzessive zu entdecken gelte, so der Künstler. Schließlich begleitete Nikolaus Lang die Teilnehmer beim anschließenden Besuch seiner Ausstellung im Schlossmuseum Murnau. Die Kunsthistorikerin Gabriele Macher animierte die Teilnehmer durch ihre anregenden Fragestellungen, sich persönlich in Gespräche mit Nikolaus Lang einzubringen. So entwickelte sich neben werkimmanenten Fragen auch ein intensiver Austausch über Spuren des Heiligen. Celia Lang, die Ehefrau des Künstlers, hatte wesentlichen Anteil am wunderbaren Gelingen eines atmosphärisch dichten Nachmittags.
Der sonnig strahlende Sonntagvormittag stand zum Abschluss der Tagung schließlich im Lichte der Vorträge von Susan Kamel, Religionswissenschaftlerin, und Eduard Kaeser, theoretischer Physiker.
Susan Kamel, Projektleiterin VW Tandem-Museumsprojekt am Institut für Religionswissenschaft der FU Berlin, formulierte in ihrem Vortrag Warum mich ein Evangelium der Kunst nicht glücklich macht einige kritische Anmerkungen zum Verhältnis von Kunst und Religion. Aufgrund ihrer Forschungstätigkeit auf dem Feld kulturhistorischer Museen, deren Präsentationsformen und Vermittlungsangebote sieht Susan Kamel die Gefahr des Verlusts einer Bemühung um Trennschärfe zwischen Kunst und Religion. Gerade weil Wahrnehmungsräume wie Museen (und auch Kirchen) gewisse Deutungen favorisieren, sind die Forderungen der Neuen Museologie (Quebec 1984) nach einer Dekonstruktion von sozialhistorischen Mythen unabdingbar. Religiöse und ästhetische Erfahrungen seien keine mystischen Begabungen, sondern durch Sprache, Geschlecht, Alter und Kultur vermittelt. Hintergrundinformationen bleiben bei ästhetischen Erfahrungen wie auch bei Religionen meist unberücksichtigt bzw. unausgesprochen. Deshalb, so Susan Kamel, trete sie ein für Vermittlung und gegen Unmittelbarkeit ästhetischer und religiöser Erfahrungen.
Als inhaltliche Klammer zu den religionswissenschaftlichen Ausführungen von Michael von Brück zu Beginn schloss der Vortrag des theoretischen Physikers Eduard Kaeser die Tagung ab. Der Schweizer Publizist (und Jazzmusiker) Kaeser nahm die Zuhörer in seinem Beitrag Warum wir nie säkular waren mit auf einen kurzen historischen Abriss des Phänomens „Wunder“. Der Aussage „Je aufgeklärter desto weniger Wunder“, dieser säkular-religiösen Ambivalenz, setzte der Physik- und Mathematiklehrer an einem Gymnasium in Olten bei Bern in Anlehnung an Bruno Latours Wir sind nie modern gewesen ein Wir sind nie säkular gewesen entgegen. Viele der größten Physiker des 20.Jahrhunderts (Max Planck, Albert Einstein, Stephen Hawking u.a.) haben sich stets mit religiösen Aspekten ihres Tuns beschäftigt. Raumfahrtpioniere wie Wernher von Braun sahen ihre Mission buchstäblich himmlisch inspiriert. Eduard Kaeser zeigte anhand der Buchmetapher der Natur, deren eingeschriebener Text entziffert werden könne, dass die Oberfläche der Säkularisierungsrhetorik religiöse Unterströmungen verbirgt, die von den Anfängen der Neuzeit bis in die Gegenwart reichen. Unter Bezugnahme auf die pragmatische Ersetzung des Substantivs Religion durch das Adjektiv religiös des amerikanischen Philosophen John Dewey und die Ermutigung zur Entdeckung des eigenen religiösen Selbst des rumänischen Religionswissenschaftler Mircea Eliade schließt Eduard Kaeser auf der Suche nach den Spuren des Heiligen mit der widersprüchlichen und zugleich hoffnungsfrohen Aufforderung, doch inspiriert zu resignieren.
Stefan Graupner