Uta Grosenick
The Art of Anselm Reyle
mit Essays von Jens Asthoff und Laura Hoptman
Dumont Buchverlag Köln, 2009, ISBN 978-3-8321-9170-2, über 400 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen in Sonderfarben und Folien, Einleger mit deutscher Übersetzung der Essays, künstlerisch gestalteter Hardcover, Fadenheftung, Format 37,3 x 30 cm, € 228,--
Anselm Reyle
Hrsg. von Daniel J. Schreiber zur gleichnamigen Ausstellung vom 17.10.2009 – 16.01.2010 in der Kunsthalle Tübingen mit einem Vorwort von Götz Adriani und einem Gespräch zwischen Daniel J. Schreiber und Anselm Reyle
Kunsthalle Tübingen/Dumont Buchverlag Köln, 2009, ISBN 978-3-8321-9238-9, 32 S., zahlreiche Abbildungen, Hardcover, Format 24,5 x 17,3 cm, € 19,95
Der ein Jahr vor der Eröffnung der Tübinger Kunsthalle 1970 eben dort geborene Anselm Reyle kam über Studien an den Staatlichen Akademien der Künste in Stuttgart und Karlsruhe und Ausstellungen unter anderem in Berlin, Heilbronn, Zürich, Glasgow, Kopenhagen, Brüssel, Paris und New York zu internationaler Anerkennung. Mit seiner Ausstellung ‚Acid Mothers Temple’ kehrt er in seine Geburtsstadt zurück. Marcel Duchamp vergleichbar findet Reyle die Fundstücke, die zum Ausgangspunkt seiner Skulpturen werden, auf Flohmärkten, im Trödel und nicht zuletzt auf Bauernhöfen. Schon als Student hatte Reyle die Neigung, kleinbürgerlichen Kitsch in seine Arbeit zu integrieren. Deshalb hat ihn sein Karlsruher Lehrer Helmut Dorner einmal aufgefordert, doch gleich ein ganzes Wagenrad in seine Kunst zu integrieren. Reyle ließ sich das nicht zweimal sagen. Später übernimmt er nicht nur das Wagenrad, sondern einen ganzen Heuwagen mitsamt Deichsel und Wiesbaum und eine Pflugschar und überzieht sie mit Neonlack. Dazu kommen überarbeitete Vasen aus kleinbürgerlichen Wohnstuben, Specksteinskulpturen, die zum Ausgangspunkt für mit Lack überzogenen Bronzeskulpturen auf Makassarholzfurniersockeln werden und ein rotgold übersprühtes gusseisernes Kreuz, das auf einem hoch polierten rosa Marmorblock sitzt.
„Der Heuwagen … hat seinen Fundstückcharakter … bewahrt. Ich habe ihn in seiner Materialität belassen, wie er war und ihn lediglich mit einer anderen Oberfläche versehen. Mir gefällt es, Dinge aus völlig unterschiedlichen Kontexten zusammenzubringen, etwas, das so wenig miteinander zu tun hat wie ein Heuwagen und die Farbe Neonpink. Das sind zwei klar voneinander getrennte Komponenten, die in Summe mehr als zwei ergeben. Es passiert noch etwas anderes, es entsteht etwas Drittes, das zunächst nicht so einfach in Worte zu fassen ist, über das man sich wundert: eine neue Atmosphäre. Das ist es, was mich interessiert. Dort fängt für mich Kunst an“ (Anselm Reyle). Reyles Arbeiten werden damit als „Transformationen vorgefundener Formate lesbar“ (Jens Asthoff). Ihn interessiert die Gleichzeitigkeit von eigener Faszination und ästhetischer Fragwürdigkeit, von Ambivalenz und Wertschätzung in einem.
„Künstlerische Neuerfindung ist hier nicht als geniale, schöpferische Einzelleistung angelegt, sondern liegt in der Erfindung triftiger Neukombinationen vorgefundener modernistischer Relikte. Woran sich aber bestimmt, dass eine dieser Verknüpfungen aufgeht und überrascht ist, die andere dagegen nicht – das ist weder Plan – noch von Regeln ableitbar. So ist es womöglich leicht, ein paar farbige Streifen hintereinander zu setzen, noch leichter, das von Assistenten ausführen zu lassen … Doch das Gespür dafür, wann etwas zu einem interessanten, als auch fragwürdigen Bild wird, … das hat dann wieder mit Intuition, dem persönlichen Filter und subjektiver Faszination zu tun“ (Jens Asthoff). „Im Prinzip ist das ein einfacher Vorgang: Dinge finden, die auf interessante Weise nicht zusammenpassen. Spannend ist, wenn es dann doch irgendwie geht und daraus plötzlich mehr wird als die Kombination der beiden Elemente, mehr als eins plus eins. So etwas lässt sich nicht belegen, aber es funktioniert, vielleicht so ähnlich wie ein guter Song“ (Anselm Reyle). Auch der Titel der Tübinger Ausstellung ist ein Fundstück. „Acid Mothers Temple“ ist der Name einer japanischen Psychodelic-Band. „Am Psychodelic Rock interessiert mich die Drogenerfahrung, die ins Musikalische übersetzt wird. Und das spielt auch in meiner Kunst eine Rolle“ (Anselm Reyle). Seine Vorliebe für Neonfarben hat mit der Hippiekultur und den psychodelischen Malereien der 60er und 70er Jahre zu tun, die sich dem Umgang mit LSD verdanken. Aber die Erinnerung geht dann doch nicht ganz auf. Reyles Arbeiten sind härter. Der schlechte Geschmack ist so übertrieben, dass er schon wieder gut ist. Letztlich bleiben Reyles Arbeiten unverdaulich. Gesamtinszenierungen wie die in der Tübinger Kunsthalle liegen einem noch nach Wochen im Magen. Man vergisst sie nicht.
Kataloge wie der Tübinger Begleitband haben es schwer, die Wucht dieser Inszenierung aufs Papier und zum Leser zu bringen. Da braucht es schon den ebenfalls bei Dumont erschienenen Prachtband mit seinen Sonderfarben, seinem aufwendigen Druckverfahren und den eigens für diesen Band geschaffenen Folien, die neue Arbeiten ergeben. „The Art of Anselm Reyle“ ist Reyle, wie er leibt und lebt. „Acid Mothers Temple“ allenfalls die Ahnung einer ersten Spur.
(ham)