Hrsg. von Hubert van den Berg und Walter Fähnders
J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart, 2009, ISBN 978-3-476-01866-3, 410 S. Hardcover gebunden, Format 23,4 x 16,2 cm, € 59,95
Das Lexikon gibt einen Überblick über die ästhetischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts und zeichnet sie als ein Geflecht von Gruppierungen, Bewegungen, Ismen, Strömungen, Tendenzen von Einzelkünstlern, Galeristen, Verlegern, von Zeitschriften und Zeitungen mit dem Anspruch aus, „nicht nur eine radikale Neuerung künstlerischer Formen und der einzelnen Künste zu bewirken, sondern zugleich eine gänzlich neue Auffassung von Kunst und eine neuartige Positionierung der Kunst in der Gesellschaft durchzusetzen“ (Hubert van den Berg/Walter Fähnders). Was in der deutschen und französischen Tradition als Avantgarde bezeichnet wird, gilt im angelsächsischen Bereich eher als Modernismus. In der Forschung der ehemaligen sozialistischen Länder Osteuropas ist der Avantgarde-Begriff von der politischen Avantgarde der kommunistischen Partei semantisch okkupiert. Trotz dieser uneinheitlichen Begrifflichkeit gehen die Herausgeber von der Avantgarde als einem einheitlichen Projekt aus, in dem die Hauptakteure wie Knoten in einem Netz ästhetisch, organisatorisch und genealogisch miteinander verbunden sind. „Ein Paradebeispiel für ein derartiges avantgardistisches Netzwerk bietet die Zirkulation des ersten ‚Futuristischen Manifests’ von Filippo Tommaso Marinetti 1909, der Geburtsurkunde des italienischen Futurismus. Hundert Jahre später … erschien in der internationalen Tagespresse eine Fülle von Artikeln, die an eben diese Veröffentlichung im Pariser Figaro erinnerten: so u.a. in Le Figaro, El Pais, Neue Züricher Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, La Repubblica, Standard u.v.a.m. Einige Zeitungen nehmen den 100. Geburtstag zum Anlass, ihrerseits ein Manifest, z.B. das ‚Akustische Manifest’ des Musikers Peter Androsch, abzudrucken…“ (Hubert van den Berg/Walter Fähnders).
Die als Netzwerk verstandene Avantgarde erlaubt es auch nicht, sie an Hand von einzelnen Merkmalen wie der Aufhebung der autonomen Kunst im Sinne einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis oder in eine Gruppen- und Bewegungsstruktur zu charakterisieren, weil programmatische Festlegungen immer durch das Werk einzelner Künstler und Künstlergruppen empirisch falsifizierbar sind: So gab es durchaus Avantgardisten, die die Autonomie der Kunst zu verteidigen suchten und es gab auch die Ein-Mann-Avantgarde eines Kurt Schwitters und sein Merz-Projekt. Grundmerkmale lassen sich deshalb der Tendenz nach nie als Konstanten der Avantgarde insgesamt bestimmen. Die offene Struktur des Netzwerks und des Projektes der Avantgarde verweigert sich einheitlichen Beschreibungen. Stattdessen „existiert eine Vielzahl von künstlerischen Praktiken, die in sich widersprüchlich bleiben bzw. bleiben können – aber avantgardistische Praktiken zeigen auch eine einheitliche Tendenz, die auf ein Neues zielt: auf Grenzüberschreitung, Grenzverletzung, auf Transgression“ (Hubert van den Berg/Walter Fähnders). Das Lexikon unterscheidet zwischen den „historischen Avantgarden“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der so genannten „Neo-Avantgarde“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Es bietet Einträge zu folgenden Bereichen:
Erstens verzeichnet es Einträge zu einzelnen Avantgarde-Bewegungen und Ismen wie dem Expressionismus, Dada, Cobra. Es zeichnet deren Programmatik, Formationen und ihre Wirksamkeit nach.
Zweitens wird die Avantgarde in einzelne Kunstgattungen wie der Architektur, der Bildenden Kunst, dem Film, der Fotografie, der Mode und den Tanz aufgefächert.
Drittens geht es um Kunstformen und avantgardistische Kernbegriffe wie zum Beispiel Collage, Gesamtkunstwerk, Lautdichtung und Manifeste und viertens geht es um Länder, Regionen und Sprachen wie Europa, Amerika, den südlichen Mittelmeerraum, Esperanto und Jiddisch.
Unter dem Buchstaben J findet man die Einträge Japan, Jazz, Jiddische Avantgarde, Jordanien mit dem Verweis auf die arabische Avantgarde und Jugoslawien mit den Verweisen auf Kroatien, Slowenien und Serbien. Wer das Lexikon in die Hand nimmt, hat den Eindruck, dass er grundsolide informiert und dass ihm das Wesentliche gesagt wird. Es gehört in jede Bibliothek.
(ham)