Zeitgenössische Kunst verstehen und deuten
Westend Verlag Frankfurt/Main, 2009, dritte um acht Texte erweiterte Ausgabe, ISBN 978-3-938060-43-8, 400 S., 38 s/w-Abbildungen, Klappenbroschur, Format 21,5 x 13,6 cm, € 22,95
In der Flut der Veröffentlichungen zur Modernen und zur Gegenwartskunst ragt Jean-Christophe Ammanns „Bei näherer Betrachtung“ durch seinen die Fachdisziplinen weit überschreitenden geisteswissenschaftlichen Horizont heraus, weiter durch stupende Kenntnisse der Religionswissenschaften, Theologie und Kosmologie und schließlich auch durch seine Bereitschaft, sich auch auf Positionen von Grenzgängern wie Rupert Sheldrake und seine Vorstellung von den morphogenetischen Feldern zu beziehen. Im Kunstkontext bleibt Ammann ein weiser Rabe, wenn er frank und frei bekennt, dass es sinnlos ist, „zu behaupten man sei Atheist“. Gott ist für Ammann eine unermessliche Gesetzmäßigkeit und eine kosmische Gedächtnisstruktur, die uns alle durchdringt. In der Folge sind für Ammann dem Menschen das kosmische Bewusstsein und die Kunst als genuiner Gestaltungswille gleichsam in die Wiege gelegt. Sie sind anthropologische und kosmologische Konstanten. Deshalb unterscheiden sich die Künste für Ammann von anderen schöpferischen Leistungen wie der Wissenschaft, der Technik und der Wirtschaft dadurch, dass sie Raum und Zeit überdauern und resistent gegenüber dem Fortschritt bleiben. Kunstwerke sind für ihn sinnlich wahrnehmbare Denkgegenstände. Sie lösen Erkenntnisse aus, die über die Wahrnehmung allein durch die Sinnesorgane hinausgehen und letztlich das kosmische Bewusstsein spiegeln.
Mitte der 1970er Jahre haben die historischen Avantgarden für Ammann ihre bis dahin dominierende Rolle verloren. Das Neue ist für Ammann zwar von dem Fortschrittsdenken nicht zu trennen. Aber gerade die beste Kunst ist vom Fortschritt unabhängig. „Das Neue in der Kunst gibt es … nur insofern, als jede Generation ein neues Weltbild entwirft und dafür Form (Bildsprache) und Inhalt schafft“ (J. Chr. Ammann). Das Neue ist dann „die Kraft des Einzelnen, der antizyklisch das sich Verändernde wahrnimmt. Anstelle des Kollektiven … ist die individuelle, sich selbst ortende Kreativität des Individuums getreten, das die Utopie in sich selbst verkörpert. … Spätestens ab 1975 tritt an Stelle der Stilvorgaben die subjektive Entscheidung des Künstlers, selbst über Form und Inhalt zu bestimmen. Fortan stehen Intensität und Authentizität im Vordergrund“ (Jean-Christophe Ammann). Qualität muss für Ammann seither an der emotionalen Aufladung des traditionellen Formenvokabulars gemessen werden. „Als Qualitätsmerkmal möchte ich deshalb neben der tragenden Idee (qua Form) die emotionale Konsistenz des Hier und Jetzt bezeichnen … Im Moment von Intensität und Authentizität ist das Ergreifende die bewegende Idee und deren formadäquaten Realisierung“ (Jean-Christophe Ammann). Wenn man so will, ist Jean-Christophe Ammann ein Leben lang auf der Suche nach dem, was ihn ergreift. Zu dem letzten, was er gefunden hat, gehören die „Grundierungen“ des Frankfurter Künstlermönchs Jürgen Krause und die Zeichnungen, Aquarelle und Vasen der 1980 in Bonn geborenen Karlsruher Meisterschülerin Anna Lea Hucht: Sie sind für ihn Wunderwerke, die in sich selbst ruhen und gleichzeitig ein Sprengsatz für die Fantasie, für das Gelesene, Gesehene und das Erlebte sind und einen in die Tiefe ziehen.
(ham)