Andreas Hildmann und Norbert Jocher (Hrsg.), Die Münchner Kirchen. Architektur – Kunst – Liturgie, Verlag Schnell[&]Steiner, Regensburg 2008, ISBN 978-3-7954-1868-7, 339 Seiten, 142 Farbabbildungen und zahlreiche kleine Schwarzweißabbildungen, gebunden, Festeinband, Format 30 x 24 cm, € 49, 90.
Wer sich nicht mit Tourismusklischees über München als Zentrum des katholischen Barock begnügen will, wird mit Interesse zu dieser längst fälligen Neuerscheinung greifen. „Die Münchner Kirchen“ zeigt weit mehr als die historische Kirchenlandschaft der Innenstadt. Dazu gehören ebenso die alten Gotteshäuser im eingemeindeten Umland. Schon für den Münchner Barock sind die Wallfahrtskirchen von Ramersdorf und Forstenried, St. Georg in Bogenhausen oder St. Michael Berg am Laim wesentliche Zeugnisse. Mit der Großstadtentwicklung legt sich ein Ring von bedeutenden Kirchen des Historismus um die Altstadt von der Ludwigskirche über St. Johann Baptist Haidhausen, Maria Hilf in der Au, Heilig Kreuz Giesing bis zu St. Paul. Dazu kommen protestantische Kirchbauten. Die meisten Münchner Kirchen entstanden im 20. Jahrhundert, überwiegend nach 1945, parallel zum Wachstum der Millionenstadt. Verbindet man wegweisende Sakralbauten der Moderne meist mit Essen, Düren, Hamburg oder Berlin, finden sich doch beachtliche Münchner Beispiele wie St. Laurentius oder St. Johann von Capristan katholischerseits oder die evangelische Matthäuskirche. Zuletzt haben Herz Jesu Neuhausen und das ökumenische Kirchenzentrum München-Riem von sich reden gemacht. Eine umfassende Gesamtdarstellung fehlte bislang.
Um es vorweg zu sagen: „Die Münchner Kirchen“ ist ein Prachtband zum Hinschauen und Blättern: großzügiges Format, durchgängige Schmuckfarbe (Blau) und 142 große, davon 65 ganzseitige Farbabbildungen. 277 Münchner Kirchen und Kapellen sind behandelt, die meisten im Katalogteil (S. 290-338), der stichwortartig vor dem Hintergrund von Gemeinde- und Baugeschichte den Bautyp, Stil, Material und Baumeister/Architekten vorstellt und die Bedeutung skizziert. Die Künstler der Ausstattung sind benannt. Schwarzweißaufnahmen der Außenansicht ergänzen die Katalogangaben. Schon die Überblicksleistung des Katalogs ist verdienstvoll. Ortsfremde hätten sich allerdings über einen Übersichtsplan Münchens mit den Kirchen gefreut. Ein Namensregister der beteiligten Künstler, Baumeister und Architekten dazu hätte das Buch zu einem Nachschlagewerk aufgewertet.
Besonders überzeugt das Werk durch sein Hauptanliegen: die fundierte Präsentation von 30 ausgewählten Münchner Kirchen in Wort und Bild (S. 67-287). Die unterschiedliche Aus-bildung und Berufserfahrung der renommierten Autor/inn/en garantiert abwechslungsreiche Perspektiven und Akzentuierungen – so vielfältig wie die Münchner Kirchenlandschaft. Sieben profunde Essays führen ins Thema ein mit unterschiedlichen Fragestellungen zum Kirchenbau, seiner Geschichte, Ausformung und liturgischen Ausstattung und einem Ausblick auf die Zukunft der Kirchengebäude (S.15-63).
Ausführlich vorgestellt werden 21 katholische und 7 evangelische Kirchbauten, dazu die ökumenischen Zentren im Olympiadorf (1972/74) und München-Riem (2004/05). Der Bogen spannt sich weit von den altehrwürdigen Hauptkirchen der Stadt bis zum Neubau von Herz Jesu Neuhausen durch Allmann, Sattler, Wappner (1998-2002).
Baugestalt und Ausstattung der Gotteshäuser werden entfaltet im Blick auf ihre politische und frömmigkeitsgeschichtliche Entstehung, die liturgische Funktion und ihre Rolle für die Stadt-entwicklung. Schon dabei ergeben sich spannende Erkenntnisse, ob das die Rolle der Bruderschaften für die Allerheiligenkirche betrifft (S. 68), die politische Motivierung der „vorgeblichen Votivkirche“ St. Kajetan – Theatinerkirche (S. 167), den tatsächlichen Charakter der Dreifaltigkeitskirche als einer „Votivkirche der ganzen Stadt“ (S. 73), den kämpferischen „Katholizismus aus dem Geiste von Pius IX“ als Motiv für Hl. Kreuz Giesing (S. 180) oder die Durchsetzung „eines romantisierenden Herrschaftsbildes“ bei der Ludwigskirche (S. 195).
Ikonographie und Symbolik historischer Bauten werden erhellt wie Anklänge an den Jerusalemer Felsendom bei den Türmen der Frauenkirche (S. 103), aber auch für den neuen Kirchbau fruchtbar gemacht, wie die Lichtthematik von Herz Jesu (S. S. 139), das Kreuz als „ikonographische Grundidee“ im Kirchenzentrum München-Riem (S. 93), die „Gemeinde als Mahlgemeinschaft“ für St. Joachim-Obersendling (S. 141), noch stärker in vorkonziliarer Zeit Lösungen der Liturgiereform vorwegnehmend bei St. Johann von Capristan (S. 156) und St. Laurentius (S. 190).
Zur Verflochtenheit des Kirchbaus in die politische, Kirchen-, Liturgie- und Frömmigkeitsgeschichte treten zahlreiche architektur- und kunsthistorische Bezüge, sowohl internationale Einflüsse wie Münchner Vorbildwirkungen. Dies betrifft Wittelsbacher Pfarr- und Hofkirchen vor der Frauenkirche (S. 106) oder Bezüge bei St. Peter zu römischen Vorbildern (S. 265ff); en passant erhellt Peter B. Steiner die Stellung von Johann Baptist Straub im süddeutschen Barock bei St. Georg Bogenhausen (S. 129, 132). Die Vorbilder der Kirchen des Historismus kommen ebenso zur Sprache wie die Rolle von Theodor Fischers Waldkirche Planegg in der Geschichte des evangelischen Kirchbaus (S. 283f.) oder die Architekturbezüge von Herz Jesu zu Rudolf Schwarz, Dominikus Böhm, Franz Füeg oder Herzog [&] Meuron (S. 139).
Deutlich wird wie stark der Münchner Städtebau kirchlich geprägt ist. Waren für die Residenzstadt die barocken Sichtachsen auf den Dom (S. 105) maßgeblich, wie St. Michael Berg am Laim zeigt (S. 421f.), so reagierte das 19. Jahrhundert auf das Wachstum der Stadt mit konzentrischen Kirchenringen – nun auch mit protestantischen Kirchbauten. Den evangelischen Kirchenring um die Altstadt übersprang St. Paul, eine „wahre Kathedrale der Vorstadt“ (S. 253), am Ostufer der Isar setzte die Neugotik Akzente (175). Evangelischerseits setzte Theodor Fischer mit der Erlöserkirche in Schwabing 1900 einen städtebaulichen „Kontrapunkt zur Feldherrnhalle“ (S. 83). Heute schließlich fügt sich das ökumenische Kirchenzentrum München-Riem „adäquat in den städtebaulichen Kontext ein“ (S. 91).
Erfreulicherweise würdigt „Die Münchner Kirchen“ auch das 19. Jahrhundert, die Leistungen des Historismus bis hin zum „Faulhaberstil“ des Neobarock von St. Theresia Neuhausen (S. 276, 281), den modernen Kirchbau noch vor dem 2. Weltkrieg: St. Gabriel, St. Joachim in Obersendling und den „wichtigsten Kirchbau der Nachkriegszeit“ St. Laurentius (S. 191).
Zu den in aktueller Hinsicht bedeutsamsten Beiträgen zählt der von Matthias Ludwig über die Evang.-Luth. Johanneskirche Haidhausen. Verfall und Sanierung des Viertels hatten die Gemeinde so dezimiert, dass der Gottesdienstraum als überdimensioniert erlebt wurde. „Unter starker Beteiligung der Gemeinde wurde nun ein Raumkonzept entwickelt, das ein Neben-einander von Gottesdiensten und anderen gemeindlichen Aktivitäten im Kirchengebäude ermöglicht“ (S. 147). Der Um- bzw. Rückbau fand mittlerweile eine Reihe von Nachahmern.
Der Kunstgriff, die Einzelportraits der Kirchen nicht chronologisch, sondern alphabetisch aufzuführen, bringt zusätzlich Abwechslung in das ohnehin schon spannend zu lesende Buch. Die Auswahl der 30 portraitierten Kirchen wirkt repräsentativ. Auf evangelischer Seite greift sie „wegen der innovativen Gestaltung“ in den Landkreis aus, wie das Vorwort betont. Zwei-fellos sind die Friedenskirche Gräfelfing, Theodor Fischers Waldkirche Planegg und die Se-genskirche Aschheim bedeutende Beispiele. Das Kriterium „innovativer Gestaltung“ hätte auf katholischer Seite dann aber auch St. Nikolaus, Neuried, von Meck Architekten zwingend erfordert. Musste man denn schamhaft verschweigen, dass die traditionell orientierte Kirchbaukompetenz des dominanten evangelischen Münchner Dekans der Nachkriegszeit bessere Kirchbauqualität verhinderte?
Während die katholische Seite gelassener, auch (selbst-)kritisch auf den Kirchbau von Jahrhunderten blickt, scheint die evangelische Sicht – bis auf Matthias Ludwig und Claus-Jürgen Roepke – kaum über den eigenen Kirchturmblick hinauszureichen, die Darstellungsart selt-sam leisetreterisch. Man vermisst etwa eine kritische Betrachtung der konzeptuellen Veränderungen der Schwabinger Erlöserkirche, die geradezu als „Weiterentwicklung“ interpretiert werden (S. 85). Herzerfrischend wohltuend erscheint dagegen das klare Urteil von Peter B. Steiner, ob er nun das Nebeneinander von „virtuosen Genieleistungen ... und ein-fachen Holzfiguren“ bei St. Georg Bogenhausen benennt (S. 129), die Neueinrichtung von St. Paul „zu den besten Lösungen für die anspruchsvolle Aufgabe, Kirchenbauten des Historismus nach schweren Beschädigungen für die Liturgie von heute einrichten“ zählt (S. 258) oder bei St. Laurentius knapp urteilt: „Dieser zukunftsweisende Bau wurde in der Folge mit Antiquitäten ausgestattet.“(S. 191). So benennt er in seinem Einführungsessay auch deutlich „den bis heute anhaltenden umgekehrten Bildersturm“, wenn Klarheit, Reinheit, Leere nicht ausgehalten werden (S. 32).
So erfreulich es ist, dass Unterschiede im Ansatz und Urteil belassen sind, so vermisst man doch interne Querverweise außer bei Claus-Jürgen Roepke und Thomas Ino Hermanns, etwa zur konträren Beurteilung einer mystischen Wirkung im Kirchbau von Theodor Fischer: bei Wolfram Schendel wird sie „nicht ausgeschlossen“ (S. 86), bei Friedrich Kurrent ausdrücklich „vermieden“ (S. 283).
Vielleicht wollte man das Buch unbedingt noch im Münchner Jubiläumsjahr 2008 herausbringen. Das könnte erklären, weshalb Querverweise ebenso fehlen wie ein Orts- und Namensregister, weshalb manche Katalogfotografien schlichte Doppelungen der Farbabbildungen der Kirchenportraits oder Zeichnungen sind, manche Pläne weder Maß- noch Richtungsangabe enthalten, einige leider kaum lesbar sind, weshalb die Hälfte der Kirchenportraits mit, die andere Hälfte ohne Zwischenüberschriften erscheint ...
Davon ist deshalb zu reden, weil es wahrlich keine übermäßige Mühe gewesen wäre. Für weitere Auflagen sollte man sie nicht scheuen. Denn weitere Auflagen sind diesem prachtvollen Buch mit seiner beeindruckenden Darstellungsvielfalt, den anregenden, profunden Einleitungsessays, der Überblicksleistung des Katalogs und den exemplarischen und fast ausnahmslos exemplarisch gut gelungenen Kirchenportraits und mit seinem innovativen, das ökumenische Kunstgespräch befruchtenden und anregenden Ansatz zweifellos zu wünschen.
(Andreas Link)