Vom ästhetischen Gewinn in der Zeitenwende – den Künsten Raum geben
Kölner Manifest
Zur Förderung eines neuen Verhältnisses von Kirche und Gegenwartskunst 28. Oktober 1998
Vorgelegt von Artheon
Internationale Gesellschaft für Gegenwartskunst und Kirche Gymnasiumsstraße 36, D-70174 Stuttgart
I. Religion und Kunst in der Zeitenwende
Religion und Kunst sind die primären Quellen der Kultur, aus der andere wie Wissenschaft und Technik erwachsen. Sie stehen deshalb in einer besonderen Verantwortung, sich mit ihren unterschiedlichen Formen und Ausdrucksweisen an den gesellschaftlichen Verständigungsprozessen zu beteiligen. In der Gegenwart sind Kommunikationsformen gefragt, die sich an den neuen Kommunikations- und Informationstechniken orientieren können. Wesentliche Aufgabe der Religion wie der Kunst ist es, dem Leben inmitten virtueller Welten und der unmittelbaren Erfahrung Sprache zu verleihen.
II. Religion und Kunst halten Erfahrungen offen
Religion und Kunst sind eigenständige Weisen des Umgangs mit menschlichen Erfahrungen. Der christliche Glaube findet seinen Ausgangspunkt in einem größeren, überindividuellen Bezugsrahmen (Gott, Schöpfung, Welt, Himmel, Erde und Geschichte). Die Kunst nähert sich den Wirklichkeiten über Einzelerfahrungen. Beide legen ein Wirklichkeitsverständnis zu Grunde, das nicht allein in der Unmittelbarkeit von Erfahrungen aufgeht.
III. Christliche Religion und Kunst erschließen einander Räume
Die christliche Religion ist in ihrem Ursprung eine gleichermaßen gemeinschaftlich wie persönlich gestaltete Lebensart. Sie ist auf das Engste mit einer lebendigen Gestaltung der Gottesbeziehung verbunden. Sie kann der Kunst einen überindividuellen Raum anbieten, in dem ihre individuellen „Mythologien“ in einem veränderten Bezugsrahmen gegenwärtig werden. Die Kunst wiederum, die sich auf individuelle Gestaltungsmöglichkeiten konzentriert, schafft neue Ausdrucksformen. Sie kann vermitteln, dass sich lebendige Religiosität nicht in fest- oder vorgeschriebenen Begrifflichkeiten erschöpft. Ohne gegenseitige Erschließung würde Glaube sinnenlos und die Kunst würde sinnlos.
IV. Kunst und Kirche entdecken einander neu
Kirche und Kunst stehen seit der Antike in einem spannungsreichen Verhältnis. Aus Polaritäten erwuchsen Zusammenarbeit und Verurteilung, die ihren Ausdruck in einer wechselvollen Geschichte finden. In den beiden letzten Jahrhunderten blieben seitens der Kirche die Entwicklungen im Bereich der Kunst weitgehend unbeachtet. Die ästhetische Wahrnehmung in der Kirche beschränkte sich auf Werke eines traditionellen Kunstverständnisses. In der Kunst hingegen entfernte man sich zunehmen von der kirchlichen Thematik und den Debatten innerhalb der Theologie. In diesem Zustand gegenseitiger Fremdheit von Kunst und Kirche erwacht ein neues Interesse aneinander und es entsteht ein Bedarf an wechselseitiger Sensibilisierung.
V. Kirche und Kunst gestalten
Die neue Begegnung von Kunst und Kirche macht die primären Quellen der Kultur erfahrbar. Sie transformiert die gegenwärtig dominante oberflächliche Ästhetisierung zum Gewinn für die Kultur. Wo die Kirche den Künsten Raum gibt, fördert sie in den gesellschaftlichen Verständigungsprozessen sinnstiftende Kommunikation und erhält sich selber sprachfähig.
VI. Kirche und Kunst kooperieren als freie Partner
In der späten Moderne wächst die gegenseitige Offenheit der unterschiedlichen Träger der Kultur füreinander. Freie Begegnung und projektbezogene Zusammenarbeit überwinden überkommene Vorurteile und helfen so zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Kunst.
VII. Forderungen an Theologie und Kirchen
Von der Theologie erwarten wir eine fundamentale Wende, die den Stellenwert des Ästhetischen endlich anerkennt. Die Kirchen fordern wir auf, im Theologiestudium Grundlagen für eine qualifizierte Auseinandersetzung mit Fragen des Ästhetischen zu schaffen, Leitungsgremien für den Stellenwert von Raum und Ritual zu sensibilisieren und in kirchlichen Haushalten Mittel für die Anschaffung herausragender Werke der Gegenwartskunst bereitzustellen: ecclesia semper reformanda. Künstler und Künstlerinnen laden wir zu einer vorurteilsfreien Begegnung mit Kirche und Religion ein.